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ABKOMMEN

ABKOMMEN - NZZ

DER KÄLTESTE MOMENT
Abkommen von Ivna Zic im Theater Winkelwiese

Ein Stillleben der Entfremdung am Küchentisch: Agnes hat sich hinter einer Sonnenbrille verschanzt, Ruth blickt versteinert geradeaus, Bastian versinkt ohne jeden Tonus im Stuhl, Birger stiert auf den Boden. Birger fängt eine Fliege im Glas, Ruth zerquetscht sie wütend. Bastian rührt das Essen nicht an, Agnes schaufelt es gierig in sich hinein, bevor der offenbar übliche «Segensspruch» aufgesagt ist. Und für eine fünfte Person – Bastians Schwester, wie später angedeutet wird – deckt man zwar noch auf, aber sie scheint tot zu sein. Ihr Tod ist der Anlass zur Umorientierung jedes Einzelnen. Sie mündet in der Zerstörung des Hauses fernab der Stadt, wo die vier leben. Kein Fliegengesumm mehr. Asche überall. Und ein Neubeginn?
Vor der Dämmerung

Die 23-jährige Autorin Ivna Zic deckt in ihrem Stück «Abkommen» nicht auf, was für Sprengstoff aus der Vergangenheit hier zur Detonation gelangt ist. Sie versucht, die Orientierungslosigkeit in der Krise in Bilder und Stimmungen zu fassen, und lässt sie kulminieren im sozusagen magischen Augenblick in der Nacht: dann nämlich, kurz vor der Dämmerung, wenn es am kältesten ist.

Das Theater Winkelwiese mit der ihm eigenen Nähe der Darsteller zum Publikum ist ein idealer Ort, um solch einem Text Körperlichkeit zu geben. Gian Manuel Rau (Regie) und Michel Schaltenbrand (Bühne) nützen das geschickt. Ihr Darstellerquartett erscheint wie darauf eingeschworen, immer nur den unmittelbaren Moment zu spielen. Alle sind sie in ihrer Art ebenso heftig: die schnippische Agnes von Anja Tobler, die verbittert prinzipientreue Ruth von Silke Geertz, Nikolaus Schmids Birger, der krampfhaft versucht, an der alten Ordnung wiederanzuknüpfen, und schliesslich Samuel Streiffs depressiver Bastian.
Krise ohne Kontext

Diese Intensität wirkt deshalb besonders auffällig, weil der Zuschauer nie wirklich durchschauen kann, woraus sie sich nährt. Denn die Autorin hat in ihrer Konzentration auf die poetische Essenz eines Krisenprozesses die Figuren ihrer Geschichten und ihrer Vorgeschichte entkleidet. Den Zerfall von Ritualen und Regeln verfolgt man ohne deren Kenntnis, die Konflikte der Figuren, ohne von ihren Verstrickungen zu wissen. So erweist sich Raus Inszenierung, so kraftvoll sie ist, am Ende doch als Fehlgriff. Diesem Stück könnte man wohl nur mit einem traditionellen Ausloten feinster psychologischer Zwischentöne Leben einhauchen.

von Tobias Hoffmann, NZZ, 02. November 2009

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In der WG der Einsamen
Eine eigenwillige Wohngemeinschaft lebt am Rande der Zivilisation. Gian Manuel Rau inszeniert «Abkommen», das erste Drama von Ivna Zic
von Isabel Hemmel
Züritipp vom 29. Oktober 2009

Karg ist die Bühne: ein Herd, Töpfe, eine Badewanne, ein Tisch, gedeckt für fünf Personen. Essenszeit. Ein Platz ist leer. Auf den übrigen Stühlen sitzen Agnes, Bastian, Birger und Ruth, in sich versunken, irritiert. Ein musikalisches Fliegenbrummen durchbricht die Stille. Die Fliegen sind noch da, sonst aber ist nichts mehr, wie es war, seit Ina, Bastians Zwillingsschwester, gestorben ist.

Eine WG zerfällt
«Ich hab dich umarmt, weil ich nichts hab ausser den Abkommen», wird Agnes gegen Ende des Stücks zu Bastian sagen. Da ist das System ihres Zusammenlebens bereits zusammengebrochen. Die Abkommen, die dem Stück von Ivna Zic den Namen geben, sind für Agnes, Bastian, Birger und Ruth (über)lebenswichtig. Doch Inas Fehlen bringt die Gewohnheiten und Rituale ins Wanken: Das tägliche Risotto-Essen verläuft ungeordnet, das dazugehörende Leonard-Cohen-Gedicht wird stockend vorgetragen, der Einkauf dauert länger als festgelegt, und kein Abkommen kann Bastians Emotionen regeln. Als dann ein Brand das Haus zerstört, verlieren die vier auch noch den letzten Halt.

Ivna Zic, 1986 in Zagreb geboren, in Zürich und Basel aufgewachsen, ist für ihre literarischen Texte bereits verschiedentlich ausgezeichnet worden. «Abkommen» ist ihr erstes Drama. Es entstand im Rahmen des Autorenprogramms «Dramenprozessor» an der Winkelwiese. Auf die Frage, was sie zu dieser ungewöhnlichen Geschichte inspiriert habe, antwortet sie: «Was mich berührt, interessiert, inspiriert und immer wieder zum Nachdenken bringt, ist das Fremde im Alltag, im Wohlbekannten, in dem, was von einer Gesellschaft oder Kultur als‹Selbstverständliches› konstituiert wird.»

Freiheit und Einsamkeit
Für sie ist das Stück «eine Fabel über die Suche nach Freiheit in der Gesellschaft. Vier Figuren versuchen sich von allen gesellschaftlichen Regeln und Abmachungen zu lösen und merken dabei nicht, dass sie sich in ein neues Konstrukt von Abmachungen verstricken. Sie scheitern an der kompletten Freiheit, weil sie nicht allein sein können.»

Als «zwanghafte Geschichten aus der Einsamkeit» beschreibt Gian Manuel Rau den Inhalt von «Abkommen». Mit einem eingespielten Ensemble - Silke Geertz, Anja Tobler, Nikolaus Schmid - und dem neu dazugekommenen Samuel Streiff hat er sich an die Uraufführung von Zics Stück gemacht. Es ist eine reduzierte Arbeit, bestimmt von leisen Tönen. Schwer Zeigbares wie der Brand wird von den Schauspielern musikalisch umgesetzt. Es sei «ein Kammerspiel ohne Kammer», sagt Rau. Wie das Stück lebt auch die Inszenierung von der dichten Sprache und der Kraft der Geschichten. Was diese seltsamen Figuren letztlich antreibt, lässt sich freilich nur erahnen.

ABKOMMEN - BASLER ZEITUNG

«MIR FRIERT GRAD DER KOPF EIN». IVNA ZIC MIT IHREM DEBÜTSTÜCK «ABKOMMEN» IM THEATER ROXY.

Die Autorin Ivna Zic (23) hat im Förderprogramm Dramenprozessor ihr erstes abendfüllendes Drama verfasst. Die Inszenierung von Gian MAnuel Rau gastiert im Roxy Birsfelden.

Zwei Frauen, zwei Männer, ein Haus am Rand der Stadt. Dem Alter nach stehen sie, wie man so leichthin sagt, in der Blüte ihres lebens. Doch, wenn man sie reden hört, klingen sie eher verdorrt. Rein körperlich wohnen Birger und Ruth, Bastian und Agnes auf engstem raum. Rein emotional lebt diese Kommune in der Eiszeit. Was sie verbindet, ist einzig die Leere im Herzen. Und allenfalls die Lust am Sex.
«Was ich gemacht habe, war richtig, wie immer. Und den Rest. Darum gehts doch: Vergiss den Rest», sagt Bastian zu Agnes. Worauf er anspielt: Sie hat ihn umarmt, er hat mit ihr geschlafen. Als auch seine Freundin Ina mit im Bett lag. Ina, die nun tot ist. Und Bastian, den nichts erschüttert.

Angezündet. Gut, als Birger beinahe Agnes erschossen hätte, weil die junge Frau das Haus der Vierer-WG angezündet hat, da bemerkt Bastian nebenbei: Mir friert grad der Kopf ein.« Aber dass sich die vier mitten in einer Beziehungskatastrophe eingerichtet haben, das ficht Bastian nicht an. Die letzten Worte, die ihm Ivna in den Mund legt, lauten: »Jetzt kann man wieder schlafen.« Und dann sucht er sich einen »bekannten Ort im Raum. Und findet keinen." Und verkriecht sich daher unter den Scherben der Brandruine.

Aufgesaugt. So merkwürdig alltäglich und doch künstlich reden die Figuren in «Abkommen». Was sie sagen, verrät wesentlich weniger über sie als das, was sie verschweigen. Was wohl daran liegt, dass Ivna Zic als Schülerin an Christoph Marthalers Zürcher Schauspielhaus Stücke von Jon Fosse begeistert in sich aufsaugte. Fosses «Reduziertheit und Knappheit» haben sie beeindruckt, erzählt sie in einem DRS-Interview. Geboren wurde Ivna Zic in Zagreb, aufgewachsen ist sie in Basel und zürich. Derzeit studiert sie Regie in Hamburg. der Dramenprozessor 2007/2008 hat sie durch die Arbeit an ihrem Stück begleitet. Ende Oktober kam die Inszenierung an der Zürcher Winkelwiese heraus. Das Theater Roxy, das mittlerweile als eines von vier koproduzenten an die renommierte Autorenwerkstatt angeschlossen ist, zeigt das Stück als Gastspiel.

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TIPP TAGESANZEIGER

ABKOMMEN.

Die in Zagreb geborene Ivna Zic ist für ihre literarischen Texte schon verschiedentlich ausgezeichnet worden. «Abkommen» ist ihr erstes Drama. Es entstand im Rahmen des Autorenprogramms «Dramenprozessor» an der Winkelwiese und soll eine Fabel über die Suche nach Freiheit in der Gesellschaft sein. Vier Figuren versuchen sich von allen gesellschaftlichen Regeln und Abmachungen zu lösen und merken dabei nicht, dass sie sich in ein neues Konstrukt von Abmachungen verstricken. Regie: Gian Manuel Rau.

ABGESCHOTTETE EXISTENZEN

Winkelwiese bringt ein Vierpersonenstück der jungen Autorin Ivna Zic zur Uraufführung. «Abkommen» ist düster bis stickig.

ZÜRICH -
«Wenn dein Nachbar verschwindet, sag nie zur Essenszeit: Was ist nur mit dem Mann geschehen, der den Rasen rechte?» Wie ein Tischgebet leiert Ruth diese Sätze vor jeder Mahlzeit herunter. Wenn sie fertig ist,
beginnen die vier Leute am schäbigen Küchentisch das ewig gleiche Essen mechanisch in sich hineinzustopfen.

Rituale spielen eine wichtige Rolle in diesem heruntergekommenen Haus fernab der Zivilisation, in das sich Ruth (Silke Geertz), Agnes (Anja Tobler), Birger (Nikolaus Schmid) und Bastian (Samuel Streiff) zurückgezogen haben. Einmal pro Woche fährt jemand zum Einkaufen in die Stadt, ansonsten schotten die vier sich von der Aussenwelt ab. Erst nach und nach versteht man die Beweggründe der jungen Leute für ihr Leben in dieser eigenartigen Retraite: Angst vor der Einsamkeit, Sehnsucht nach einem Dasein mit festen Strukturen.

Doch die Realität lässt sich nicht ewig verleugnen und so bricht denn das Unheil gleich doppelt über die Wohngemeinschaft herein. Zuerst stirbt Ina Bastians geliebte Schwester. Erfolglos versucht dieser den Tod dadurch zu verdrängen, dass er einfach nie darüber spricht. Als schliesslich ein Brand das Haus vollständig zerstört, wird das Leben der vier Bewohnerinnen und Bewohner im wörtlichen Sinne in den Grundfesten erschüttert.

Ivna Zic, 1986 in Kroatien geboren, in Basel und Zürich aufgewachsen,
legt dem Publikum mit ihrem im Rahmen des Winkelwiese Autorenprogramms «Dramenprozessor» entstandenen Stücks ganz schön happige Kost vor. Zu viele Themen werden behandelt, wodurch «Abkommen» inhaltlich überladen wirkt. Gian Manuel Raus Regie schafft eine erdrückende Stimmung, in der die Zuschauer den
Gemütszustand der Figuren miterleben. Dass die Luft im Theatersaal
nach dem Brand, der in der Mitte der Aufführung wütet, derart dick ist, dass man kaum noch atmen kann, ist dann aber wohl doch zu viel des Guten.

Was einem von der 75 minütigen Aufführung sicher auch im Gedächtnis haften bleibt, sind einzelne starke Bilder. Etwa wenn Ruth eine Fliege tötet und dabei mit Inbrunst sagt: «Du bist tot, du bist tot, du bist tot. So macht man das wenn jemand stirbt. Man sagt: Du bist tot. Du bist tot. Du bist tot. Das ist die Regel.»

Anne Suter, Der Landbote, 31. Oktober 2010

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P.S. - ABKOMMEN

FESTHALTEN

Krampfhaft versuchen die vier Figuren in Ivna Zics Erstling «Abkommen», am scheinbaren Gleichgewicht ihrer Gruppe festzuhalten, obwohl die fünfte Figur nicht mehr da ist. Gian Manuel Rau inszeniert den nicht mehr aufzuhaltenden Zerfall als beklemmendes Kammerspiel.

Verstummen und leise in sich hineinweinen über den Verlust von Ina ist die Umgangsform von Bastian (Samuel Streiff). Eisern an den Regeln festhalten und so tun als wäre nichts geschehen, jene von Ruth (Silke
Geertz). Mit Flucht in Nichtigkeiten kleineren und grösseren Vorwürfen gegenüber den anderen versucht sich Birger (Nikolaus Schmid) abzulenken. Nur Agnes (Anja Tobler) sucht die gezielte Provokation und zieht ihre Ruhe offensichtlich aus der Aufregung der anderen. In diesem Haushalt fernab jeglicher Zivilisation läuft alles ritualisiert ab. Sogar der Weg ins Dorf und zurück ist für jeden einzelnen Streckenabschnitt minutengenau definiert. Alle würden sie am liebsten an diesem Trott festhalten, doch das Haus fällt einem Feuer zum
Opfer und neben der grossen Verunsicherung der fehlenden Ina kommt nun ein zweites Erschwernis hinzu. Sobald sich jemand nicht an die eingeschliffenen Rituale hält, wird er/sie von jemand anderem gemassregelt und weil sich die vier so gut kennen, wissen sie darum,
wie beängstigend die Drohung des Verlassens der Gruppe auf andere wirkt, und das wird dazu ausgenützt alle auf der Linie zu halten. Die gegenseitige Zuneigung äussert sich in gemeinsamem Summen und am Küchentisch zusammensitzen. Darüber hinaus agieren die vier
derart verschieden, dass man sich fragt, was sie je zusammengeschweisst hat. Die Angst vor dem Alleinsein oder doch jene vor der Freiheit? Glück und Furcht sind in diesem Stück immer
gleichzeitig vorhanden und die Figuren sind sich offensichtlich selber nicht im Klaren darüber, welcher Zustand in welchem Moment gerade herrscht. Diese Ambivalenz führt zu einer im Theater fassbaren Überanspannung.

Thierry Frochaux, P.S., 05. November 2010

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