Programm 2003-2015 » Spielpläne der Leitungszeit Stephan Roppel: siehe Rubrik Programm 2003-2015>Produktionen » ABKOMMEN
ABKOMMENABKOMMEN - NZZDER KÄLTESTE MOMENT Ein Stillleben der Entfremdung am Küchentisch: Agnes hat sich hinter einer Sonnenbrille verschanzt, Ruth blickt versteinert geradeaus, Bastian versinkt ohne jeden Tonus im Stuhl, Birger stiert auf den Boden. Birger fängt eine Fliege im Glas, Ruth zerquetscht sie wütend. Bastian rührt das Essen nicht an, Agnes schaufelt es gierig in sich hinein, bevor der offenbar übliche «Segensspruch» aufgesagt ist. Und für eine fünfte Person – Bastians Schwester, wie später angedeutet wird – deckt man zwar noch auf, aber sie scheint tot zu sein. Ihr Tod ist der Anlass zur Umorientierung jedes Einzelnen. Sie mündet in der Zerstörung des Hauses fernab der Stadt, wo die vier leben. Kein Fliegengesumm mehr. Asche überall. Und ein Neubeginn? Die 23-jährige Autorin Ivna Zic deckt in ihrem Stück «Abkommen» nicht auf, was für Sprengstoff aus der Vergangenheit hier zur Detonation gelangt ist. Sie versucht, die Orientierungslosigkeit in der Krise in Bilder und Stimmungen zu fassen, und lässt sie kulminieren im sozusagen magischen Augenblick in der Nacht: dann nämlich, kurz vor der Dämmerung, wenn es am kältesten ist. Das Theater Winkelwiese mit der ihm eigenen Nähe der Darsteller zum Publikum ist ein idealer Ort, um solch einem Text Körperlichkeit zu geben. Gian Manuel Rau (Regie) und Michel Schaltenbrand (Bühne) nützen das geschickt. Ihr Darstellerquartett erscheint wie darauf eingeschworen, immer nur den unmittelbaren Moment zu spielen. Alle sind sie in ihrer Art ebenso heftig: die schnippische Agnes von Anja Tobler, die verbittert prinzipientreue Ruth von Silke Geertz, Nikolaus Schmids Birger, der krampfhaft versucht, an der alten Ordnung wiederanzuknüpfen, und schliesslich Samuel Streiffs depressiver Bastian. Diese Intensität wirkt deshalb besonders auffällig, weil der Zuschauer nie wirklich durchschauen kann, woraus sie sich nährt. Denn die Autorin hat in ihrer Konzentration auf die poetische Essenz eines Krisenprozesses die Figuren ihrer Geschichten und ihrer Vorgeschichte entkleidet. Den Zerfall von Ritualen und Regeln verfolgt man ohne deren Kenntnis, die Konflikte der Figuren, ohne von ihren Verstrickungen zu wissen. So erweist sich Raus Inszenierung, so kraftvoll sie ist, am Ende doch als Fehlgriff. Diesem Stück könnte man wohl nur mit einem traditionellen Ausloten feinster psychologischer Zwischentöne Leben einhauchen. von Tobias Hoffmann, NZZ, 02. November 2009 In der WG der Einsamen Karg ist die Bühne: ein Herd, Töpfe, eine Badewanne, ein Tisch, gedeckt für fünf Personen. Essenszeit. Ein Platz ist leer. Auf den übrigen Stühlen sitzen Agnes, Bastian, Birger und Ruth, in sich versunken, irritiert. Ein musikalisches Fliegenbrummen durchbricht die Stille. Die Fliegen sind noch da, sonst aber ist nichts mehr, wie es war, seit Ina, Bastians Zwillingsschwester, gestorben ist. Eine WG zerfällt Ivna Zic, 1986 in Zagreb geboren, in Zürich und Basel aufgewachsen, ist für ihre literarischen Texte bereits verschiedentlich ausgezeichnet worden. «Abkommen» ist ihr erstes Drama. Es entstand im Rahmen des Autorenprogramms «Dramenprozessor» an der Winkelwiese. Auf die Frage, was sie zu dieser ungewöhnlichen Geschichte inspiriert habe, antwortet sie: «Was mich berührt, interessiert, inspiriert und immer wieder zum Nachdenken bringt, ist das Fremde im Alltag, im Wohlbekannten, in dem, was von einer Gesellschaft oder Kultur als‹Selbstverständliches› konstituiert wird.» Freiheit und Einsamkeit Als «zwanghafte Geschichten aus der Einsamkeit» beschreibt Gian Manuel Rau den Inhalt von «Abkommen». Mit einem eingespielten Ensemble - Silke Geertz, Anja Tobler, Nikolaus Schmid - und dem neu dazugekommenen Samuel Streiff hat er sich an die Uraufführung von Zics Stück gemacht. Es ist eine reduzierte Arbeit, bestimmt von leisen Tönen. Schwer Zeigbares wie der Brand wird von den Schauspielern musikalisch umgesetzt. Es sei «ein Kammerspiel ohne Kammer», sagt Rau. Wie das Stück lebt auch die Inszenierung von der dichten Sprache und der Kraft der Geschichten. Was diese seltsamen Figuren letztlich antreibt, lässt sich freilich nur erahnen. ABKOMMEN - BASLER ZEITUNG«MIR FRIERT GRAD DER KOPF EIN». IVNA ZIC MIT IHREM DEBÜTSTÜCK «ABKOMMEN» IM THEATER ROXY. Die Autorin Ivna Zic (23) hat im Förderprogramm Dramenprozessor ihr erstes abendfüllendes Drama verfasst. Die Inszenierung von Gian MAnuel Rau gastiert im Roxy Birsfelden. Zwei Frauen, zwei Männer, ein Haus am Rand der Stadt. Dem Alter nach stehen sie, wie man so leichthin sagt, in der Blüte ihres lebens. Doch, wenn man sie reden hört, klingen sie eher verdorrt. Rein körperlich wohnen Birger und Ruth, Bastian und Agnes auf engstem raum. Rein emotional lebt diese Kommune in der Eiszeit. Was sie verbindet, ist einzig die Leere im Herzen. Und allenfalls die Lust am Sex. Angezündet. Gut, als Birger beinahe Agnes erschossen hätte, weil die junge Frau das Haus der Vierer-WG angezündet hat, da bemerkt Bastian nebenbei: Mir friert grad der Kopf ein.« Aber dass sich die vier mitten in einer Beziehungskatastrophe eingerichtet haben, das ficht Bastian nicht an. Die letzten Worte, die ihm Ivna in den Mund legt, lauten: »Jetzt kann man wieder schlafen.« Und dann sucht er sich einen »bekannten Ort im Raum. Und findet keinen." Und verkriecht sich daher unter den Scherben der Brandruine. Aufgesaugt. So merkwürdig alltäglich und doch künstlich reden die Figuren in «Abkommen». Was sie sagen, verrät wesentlich weniger über sie als das, was sie verschweigen. Was wohl daran liegt, dass Ivna Zic als Schülerin an Christoph Marthalers Zürcher Schauspielhaus Stücke von Jon Fosse begeistert in sich aufsaugte. Fosses «Reduziertheit und Knappheit» haben sie beeindruckt, erzählt sie in einem DRS-Interview. Geboren wurde Ivna Zic in Zagreb, aufgewachsen ist sie in Basel und zürich. Derzeit studiert sie Regie in Hamburg. der Dramenprozessor 2007/2008 hat sie durch die Arbeit an ihrem Stück begleitet. Ende Oktober kam die Inszenierung an der Zürcher Winkelwiese heraus. Das Theater Roxy, das mittlerweile als eines von vier koproduzenten an die renommierte Autorenwerkstatt angeschlossen ist, zeigt das Stück als Gastspiel. TIPP TAGESANZEIGERABKOMMEN. Die in Zagreb geborene Ivna Zic ist für ihre literarischen Texte schon verschiedentlich ausgezeichnet worden. «Abkommen» ist ihr erstes Drama. Es entstand im Rahmen des Autorenprogramms «Dramenprozessor» an der Winkelwiese und soll eine Fabel über die Suche nach Freiheit in der Gesellschaft sein. Vier Figuren versuchen sich von allen gesellschaftlichen Regeln und Abmachungen zu lösen und merken dabei nicht, dass sie sich in ein neues Konstrukt von Abmachungen verstricken. Regie: Gian Manuel Rau. ABGESCHOTTETE EXISTENZENWinkelwiese bringt ein Vierpersonenstück der jungen Autorin Ivna Zic zur Uraufführung. «Abkommen» ist düster bis stickig. ZÜRICH - Rituale spielen eine wichtige Rolle in diesem heruntergekommenen Haus fernab der Zivilisation, in das sich Ruth (Silke Geertz), Agnes (Anja Tobler), Birger (Nikolaus Schmid) und Bastian (Samuel Streiff) zurückgezogen haben. Einmal pro Woche fährt jemand zum Einkaufen in die Stadt, ansonsten schotten die vier sich von der Aussenwelt ab. Erst nach und nach versteht man die Beweggründe der jungen Leute für ihr Leben in dieser eigenartigen Retraite: Angst vor der Einsamkeit, Sehnsucht nach einem Dasein mit festen Strukturen. Doch die Realität lässt sich nicht ewig verleugnen und so bricht denn das Unheil gleich doppelt über die Wohngemeinschaft herein. Zuerst stirbt Ina Bastians geliebte Schwester. Erfolglos versucht dieser den Tod dadurch zu verdrängen, dass er einfach nie darüber spricht. Als schliesslich ein Brand das Haus vollständig zerstört, wird das Leben der vier Bewohnerinnen und Bewohner im wörtlichen Sinne in den Grundfesten erschüttert. Ivna Zic, 1986 in Kroatien geboren, in Basel und Zürich aufgewachsen, Was einem von der 75 minütigen Aufführung sicher auch im Gedächtnis haften bleibt, sind einzelne starke Bilder. Etwa wenn Ruth eine Fliege tötet und dabei mit Inbrunst sagt: «Du bist tot, du bist tot, du bist tot. So macht man das wenn jemand stirbt. Man sagt: Du bist tot. Du bist tot. Du bist tot. Das ist die Regel.» Anne Suter, Der Landbote, 31. Oktober 2010 P.S. - ABKOMMENFESTHALTEN Krampfhaft versuchen die vier Figuren in Ivna Zics Erstling «Abkommen», am scheinbaren Gleichgewicht ihrer Gruppe festzuhalten, obwohl die fünfte Figur nicht mehr da ist. Gian Manuel Rau inszeniert den nicht mehr aufzuhaltenden Zerfall als beklemmendes Kammerspiel. Verstummen und leise in sich hineinweinen über den Verlust von Ina ist die Umgangsform von Bastian (Samuel Streiff). Eisern an den Regeln festhalten und so tun als wäre nichts geschehen, jene von Ruth (Silke Thierry Frochaux, P.S., 05. November 2010 |
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