Gedenkrede von Andreas Klaeui zu Jakob Zweifels neunzigstem Geburtstag

Der Name Jakob Zweifel ist mir seit frühester Kindheit vertraut. Meine Mutter war zufällig in die gleiche Sanktgaller Kantonsschulklasse gegangen wie er und hat mit ihm die Matura gemacht; und so war mir die Winkelwiese im – von Basel aus gesehen – doch ein wenig abgelegenen Zürich ein Begriff, lange bevor ich je selbst ins Theater ging, geschweige denn in Zürich. Es war mir bewusst, dass es neben dem berühmten Schauspielhaus in Zürich noch ein weiteres, kleines, feines Theater gab, und ich hatte auch schon ein Bild von der Schauspielerin, von der Grande Dame Maria von Ostfelden, ein markant expressives Bild (ich weiss nicht, ob es der Realität entsprach). Ich wusste seit jeher, dass ungezwungene Geselligkeit nach der Vorstellung irgendwie auch zum Theater gehört, und überhaupt die Idee, jemandem einfach kurzerhand ein Theater einzurichten, war mir in der Kinderseele vertraut, und all das kam mir ganz natürlich vor.

Aber was musste das für eine Schauspielerin sein, von der ein Theater ganz alleine lebte? Und was war das für ein Mann, der ihr kurzerhand die Bühne dafür einrichtete? Ich bin ihm später wohl kurz selber begegnet, aber wir waren zu weit auseinander, ich könnte nicht sagen: ich habe ihn gekannt. Doch verbindet sich mit der Person von Jakob Zweifel für mich auch ein Stück weit eine geistige Grundhaltung, die mir sehr sympathisch ist. Es ist dies eine Haltung, die mir auf eine im positiven Sinn altmodische Weise liberal und auch, warum nicht?: helvetisch vorkommt, eine Geisteshaltung, die ich eher von Gottfried Keller kenne als aus den Wirtschaftsnachrichten von heute und die ich eigentlich auch vermisse: nämlich eben dies aus Überzeugung und nicht bloss aus Nützlichkeitsdenken Unternehmerische, dieses wache, einigermassen unkompliziert dem Leben gegenübertretende: Man muss es einfach machen.

«Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.»

Es ist eine sehr selbstverständlich angenommene Idee von Verantwortung, die sich darin ausdrückt, und die Jakob Zweifel gewiss auch als Architekt auszeichnete. Oder sagen wir ganz allgemein: als Citoyen. Ich bin natürlich nicht der Richtige, um ein sachkundiges Urteil über Jakob Zweifels Architektur abzugeben. Ich kann nur sagen: mir gefällt sie. Und sie gefiel auch meinen Eltern, für die sie zu ihrer Zeit auch noch den Schock des Modernen hatte, das wir heute vielleicht auch in ein verklärendes Retro-Licht setzen. Mag sein, dass die Bekanntschaft mit Jakob Zweifel ihr Urteil beeinflusst hat – aber ich glaube, eigentlich nicht, jedenfalls nicht nur, ich glaube schon, dass es auch hier eine architektonische Haltung war, die den Unterschied machte, eine Haltung, die bewirkte, dass Jakob Zweifels Architektur seine Zeitgenossen erreichte, nämlich die Haltung dessen, der zuerst auf die Bedürfnisse der Leute schaut, für die er baut, und seine Architektur danach entwirft. Eine Architektur sodann, die sich auch in einen historischen Kontext einschreibt und das Neue denkt, aber auch das Alte nicht vergisst, auch den historischen Bestand würdigen will. Jakob Zweifels Engagement galt ja auch der Ortsplanung, dem Nachdenken über die architektonische Entwicklung der Schweiz und wie sich das bauliche Erbe darin erhalten könne. Auch darin manifestiert sich die Haltung eines Citoyens: er war ein Citoyen, der baut.

Es ist eine liberale Haltung, eine urbane und vernünftige Denkweise, die sich darin ausdrückt: ein Geist, der Freiheit nicht nur als Voraussetzung versteht, um Wohlstand zu schaffen, schon gar nicht nur persönlichen Reichtum anzuhäufen, sondern auch als die beste Voraussetzung, um den Kopf offen zu haben für eine vernünftige Gestaltung der res publica, der Sache aller oder wie es auf deutsch mit dem schönen Wort heisst: des «Gemeinwesens». Man liegt wohl nicht falsch mit der Behauptung, Jakob Zweifel sei im Grunde seines Herzens immer ein Liberaler gewesen, im Sinne jenes Liberalismus, der der Schweiz im 19. Jahrhundert den Weg zu einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft gezeigt hat. Wie ihn eben zum Beispiel Gottfried Keller in vaterländisch hochgestimmten Liedern gefeiert hat – der Traum der jungen Schweiz von einem Staat, der vom bürgerlichen Gemeinsinn regiert wäre, der sich nicht bloss als der hässliche Steuereintreiber zeigte, sondern eine Sache aller mit allen, eine Nation, die einzig auf dem Willen und der Zustimmung ihrer Bürger beruht... Auch andere würden diesen Traum noch träumen, in Zürich ein wenig später zum Beispiel auch Lenin, mit sozialutopischen Abweichungen, versteht sich; in der Wirtschaftsdepression der 1880er Jahre, knapp vierzig Jahre nach der Gründung des Bundesstaats hat Keller selber allerdings auch schon das Erwachen daraus formuliert und die Desillusionierung; im «Martin Salander», diesem Roman vom Heimkehrer in eine Schweiz, die sich von seinen Idealen weit entfernt hat, ein Land in der Hand von seelenlosen Parvenus, austauschbaren Jungpolitikern, die ihre Parteizugehörigkeit untereinander auswürfeln, ich kann nur empfehlen, «Martin Salander» heute mal wieder zu lesen, es ist ein grandioser Roman der Ernüchterung.

Jakob Zweifel war wohl nüchtern von Anfang an und blieb es bis zuletzt – auch wenn er mit seiner breiten Stirn gelegentlich auch utopisch erscheinende Projekte, vielleicht zur eigenen Überraschung, durchzusetzen vermochte. Wie das berühmte Schwesternhaus in Zürich: Bei der Wettbewerbsabgabe habe er sein Büro zum Nachtessen eingeladen, hat er in einem Interview berichtet, und den Mitarbeitern gesagt: ‹Nach der Entscheidung der Jury laufen wir sowieso mit hängenden Köpfen herum. Mit diesem Hochhaus kommen wir nicht durch, aber wir sind überzeugt, und darum machen wir das.›

Wir sind überzeugt, und darum machen wir das: Es ist diese selbstverständliche Verbindlichkeit, die zugleich mit grosser Bescheidenheit auftritt, die mir imponiert. Und wie sehr er seine eigene Person jeweils zurückgenommen hat, betonen alle, die mit ihm zugange waren. Auch im Theater hielt er sich im Hintergrund, als Begleiter, Ermöglicher und Förderer. Er hat in seiner Jugend wohl erwogen, selber Schauspieler zu werden, sich dann aber für die Architektur entschieden. Bis zu ihrem Tod 1971, 25 Jahre lang war er der Lebenspartner der Schauspielerin und Regisseurin Maria von Ostfelden, die 1939 aus Wien in die Schweiz emigriert war. In den fünfziger Jahren zeigte sie in Zürich erste experimentelle Inszenierungen an der Uni, in einem Theateratelier nach Emil Staigers Vorlesungen, in einem Keller, ab 1959 konnte sie ihr eigenes Studiotheater betreiben im Klosterkeller an der Spiegelgasse, ab 1964 hier in der Villa Tobler. Viele Dramatiker der Nachkriegs-Avantgarde, die heute zum Kanon gehören, hat sie zum ersten Mal in Zürich aufgeführt: Das Programm war für das damalige Zürich ziemlich sensationell. «Der Architekt und der Kaiser von Assyrien» von Fernando Arrabal, «Victor oder die Kinder an der Macht» von Roger Vitrac, Harold Pinter, Edward Albee, Ionesco, Beckett, Boris Vian, Jean Genet.

Die Schauspieler waren jung und noch unbekannt, einige von ihnen sind heute feste Grössen im Schweizer Theaterbetrieb. Maria von Ostfelden muss als Regisseurin gleichermassen inspirierend wie furchterregend gewesen sein, passioniert in der Sache und chaotisch im Vorgehen – im Hintergrund hielt Jakob Zweifel die Fäden in der Hand, schaute, dass sie sich nicht zu sehr verwirrten, vermittelnd und besänftigend, darf man sich vorstellen, und hatte sicherlich keinen kleinen Anteil daran, dass der feurige Elan vom ersten Regieeinfall bis zur Premierenfeier in der eigenen Wohnung nicht erlosch.

Und nach ihrem Tod bewahrte er Maria von Ostfeldens künstlerisches Vermächtnis und führte das Theater in ihrem Sinne weiter, zuerst als Leiter, dann als Präsident der Fördergesellschaft, wohlverstanden immer persönlich garantierend für die jährlichen Verluste. Heute ist das Theater an der Winkelwiese aus dem Zürcher Kulturleben nicht mehr wegzudenken als wichtige dritte Stimme neben dem Schauspielhaus und dem Neumarkttheater und als Ort für den Dramatiker-Nachwuchs.

Legendär wurden die Premierenfeiern in Jakob Zweifels Wohnung und auf der Dachterrasse im Seefeld, zu denen alle an der Aufführung Beteiligten eingeladen waren, aber auch Freunde, Bekannte und sogar unbekannte zufällige Theaterbesucher – Martin Schlappner, der 1996 die Monographie «Jakob Zweifel - Architekt» verfasst hat, erinnerte sich ganz konkret, und ich will Ihnen seine schöne Schilderung nicht vorenthalten: «Vierzig bis fünfzig Personen waren es zuweilen, die sich so in anregenden Gesprächen zusammenfanden – bei Brot, Schinken und Käse, bei Glarner Spezialitäten, wie Ziger und Pastete. Diese werden in grossen Körben herumgereicht, den Wein aber, stets schweizerischer Herkunft, schenkt der Hausherr selber in die Gläser.»

Denn zum Mäzenatentum, wie es Jakob Zweifel ganz offenkundig verstand, gehört die Kunst nicht bloss als Dekoration, als Beitrag zur Alltagsverschönerung, sondern sie wird vielmehr selber wieder in die Lebenswelt führen, ins angeregte Gespräch, in die unkonventionelle Geselligkeit und in das gemeinsame Reflektieren, ins Nachdenken über
die bessere Gestaltung eben dieser Lebenswelt. So alimentiert sie einen Geist aus Bürgersinn und Urbanität. – Kunst ist nicht «Nice-to-have», sondern bürgerliche Notwendigkeit. Und so darf man mit Jakob Zweifel auch eine Geisteshaltung feiern, einen bürgerlichen – nein: einen Bürger-Geist, wie er der Schweiz auch heute oft Not täte.