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DER ARGENTINIER

Zwischen Heim- und Fernweh

Katja Baigger, NZZ, 17.4.2015

Wie erfrischend! Die Bühne in der «Winkelwiese» ist so eingerichtet, dass die Zuschauer von zwei Seiten auf das Geschehen blicken. Dieses spielt sich in der Mitte des Kellergewölbes ab. Das war die Idee des freien Aarauer Theaters Marie, das bis Anfang Mai in Zürich gastiert (siehe Kasten). Die Bühnenbildner Erik Noorlander und Linda Rothenbühler haben in einen Holzkubus eine Castorfsche Drehbühne en miniature eingebaut. Damit allerdings hat es sich mit möglichen Reminiszenzen an den Noch-Volksbühne-Regisseur Frank Castorf; im Kellergewölbe der Villa Tobler wird weder geschrien noch umhergerannt. Das wäre ja an sich keine Schwäche. Doch die texttreue Inszenierung von Klaus Merz' «Der Argentinier» wirkt trotz Live-Video bisweilen «nur» wie eine szenische Einrichtung.

Der Regisseur Olivier Keller übernimmt aus der Novelle die beiden Akteure und bestätigt damit das Konjunktivische der Erzählung über den abwesenden Grossvater. Lenas (Newa Grawit) berichtet an einer Klassenzusammenkunft ihrem einstigen Schulkollegen (Diego Valsecchi) von ihrem Opa Johann Zeiter, der kurz zuvor gestorben ist. Von den Bewohnern des Dorfes, in dessen Landschule er unterrichtete, wurde er stets «Der Argentinier» genannt. Das rührt daher, dass er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus seinem Leben ausbricht, sich nach Argentinien einschifft, um Gaucho zu werden. Stattdessen packt ihn die Leidenschaft des Tango, er verliebt sich in Mercedes, während seine Freundin Amelie in der Schweiz auf ihn wartet.

Aus Heimweh kehrt Johann – als Tango-Partner von Mercedes ist er inzwischen bei Turnier-Reife angelangt – wieder in die Schweiz und zu Amelie zurück. Innerlich aber packt ihn ab und an das Fernweh. Diese Weite, die bei Merz (der Autor sass bei der Zürcher Premiere im Publikum) eröffnet wird, erhält auf der Bühne eine Entsprechung: Zwei Bildschirme sind an den Kellerwänden angebracht, auf welche die Darsteller projiziert werden. Sie filmen einander mit einer Kamera, zoomen auf ihre Gesichter, wenn sie erzählen. Dabei kichern sie, richten das Objektiv auf sich selbst, eine Anspielung auf die Selfie-Kultur.

Grawit und Valsecchi verkörpern ihre Figuren mit Charme, etwa, wenn der Regisseur einen – absehbaren – Flirt zwischen ihnen inszeniert. Beide erzählen die Geschichte des Grossvaters, hören einander zu, blicken ins Publikum. Dass das Duo beim Erzählen innehält oder dass Zeit verstreicht, wird auf hübsche Art signalisiert: Sie drehen dann an einer altmodischen Kurbel. Das Heimweh- und Liebesmotiv klingt im «S Vreneli ab em Guggisberg» an, dessen Strophen die Protagonisten anstimmen. Jedoch, das Guggisberg-Lied ist in der Kulturszene inzwischen so oft intoniert worden, dass es abgedroschen wirkt. Gibt es keine anderen Entdeckungen mehr im Schweizer Liedgut? Der 75-minütige Abend ist zwar rund, aber – trotz dem eingangs erwähnten überraschenden Bühnenbild – etwas gar verhalten und voraussehbar.

Wie Grossvater zum Tänzer wurde

Ein Ausgewanderter kehrt als Sonderling zurück: «Der Argentinier» von Klaus Merz steckt voller Rätsel. Diffus war auch die Inszenierung des Theater Marie im Theater Winkelwiese.

Lena Rittmeyer, Tages Anzeiger, 17.4.2015

Der Mann fällt aus dem Bild. Die Kamera hat sein Gesicht in Nahaufnahme eingefangen. Doch dann dreht er sich, und zu sehen ist nur noch sein angeschnittener Hinterkopf. Eine Metapher? Vielleicht. Es bleibt vieles im Ungefähren im Theater Winkelwiese, wo die 1983 gegründete Aarauer Gruppe Theater Marie – eine feste Grösse im helvetischen Tourneebetrieb – ihre Bühnenversion der Novelle «Der Argentinier» des vielfach preisgekrönten Aarauers Klaus Merz zeigt.

Das Buch von Klaus Merz steckt selbst voller Andeutungen und Rätsel. Die Rahmenhandlung bildet ein Klassentreffen, an dem eine gewisse Lena einem einstigen Schulkameraden die Lebensgeschichte ihres Grossvaters erzählt. Dieser wanderte nach dem Krieg nach Südamerika aus und kehrte als wortkarger Sonderling zurück. Doch Lenas Erinnerungen basieren selbst nur auf überlieferten Begebenheiten. Merz schachtelt die Handlung ineinander, überfrachtet seine Sätze mit Bedeutung und springt als unzuverlässiger Erzähler in Zeit und Raum umher.

Keine Haltung

Vom Eigenleben unserer bruchstückhaften Erinnerung handelt «Der Argentinier». Von der Kraft des Tangos, vom Südamerika der Nachkriegszeit, vom Fernweh. Wahrscheinlich gibt es noch viele Lesarten mehr, nur Regisseur Olivier Keller will sich für keine entscheiden. Seine Inszenierung bleibt so nahe am Text, dass man einen dramaturgischen Eingriff vermisst. Eine Haltung zum Gezeigten. Eine Interpretation. Zumindest eine Erklärung hätte auch die Kurbel in der Ecke der Bühne verlangt, die die Schauspieler wiederholt betätigen. Sie ist zwar als Zitat einer Passage aus der Novelle zu verstehen, aber was hat sie hier im Theater zu bedeuten?

Starke Bilder entstehen immerhin da, wo sich Keller von der Poesie der Vorlage inspirieren liess. Dann etwa, als die Schauspieler Newa Grawit und Diego Valsecchi auf der mittigen Drehbühne das Guggisberglied singen, die Kamera das Paar auf einen Bildschirm überträgt, wo sich verschwommene Farbtupfer über die Szenerie legen. Zur Sache tut das zwar nichts, ist aber schön anzuschauen.

Meistens spricht das Schauspielduo den Text in aufgeteilten Rollen frontal ins Publikum, das auf zwei Seiten der Bühne sitzt. Warum es das Geschehen erfordert, ständig per Aufzeichnung wiedergegeben zu werden, erschliesst sich nicht. Möchte man den verschiedenen Handlungsebenen gerecht werden? Geht es um Perspektiven? Um Schein und Sein? Auch das bleibt diffus.

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