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DIE BEDÜRFNISSE DER PFLANZEN

RADIOBEITRAG für SUBKUTAN, RaBe

02.2013MITSCHNITT.MP3 | 9 MBytes

AUS DER VOGELPERSPEKTIVE AUF DAS LEBEN SCHAUEN

Sarah Jäggi, Reformiert. Aargau, 20.2.2013

[...] Die Grossmutter meiner Kinderheitserinnerung ist eine eher strenge, ernste Frau. Eine, die uns jedes Jahr an Weihnachten tadelte, wenn wir die Lieder nicht schön genug sangen. Dann, im Jahr 2003, wurde sie dement, begann sich und ihr Leben zu vergessen, wurde sanfter und hatte plötzlich eine Leichtigkeit, die uns völlig neu war. [...]

Kein Tag ohne Eintrag. Nach ihrem Tod begann ich, ihre Tagebücher zu lesen. Unglaublich viele Tagebücher. Sechzig Bücher, die ihren Alltag während zwanzig Jahren akribisch dokumentieren. Jedes Buch sieht gleich aus, jedes ist von Hand gebunden, jedes mit einem kleinen Kartonschild beschriftet. Sechzig Bücher lang. Kein Tag ohne Eintrag, kein Tag, wo nicht stünde, wie das Wetter war, was sie kochte, welche Arbeit im Garten zu tun war.

Diese Art, wie sie ihr Leben verschriftlicht hat, hat mich fasziniert. Als ob sie sich selbst erst im Schreiben gespürt hat, schien es zu ihrem Leben zu gehören. Dabei hat wohl niemand geahnt, wie fundamental wichtig ihr das Schreiben war. Schon als Kind hatte sie angefangen, alles zu dokumentieren und ihre Briefe zu sammeln. Alles fein säuberlich geordnet.

Was bleibt nach dem Tod. Zuerst war ich erschlagen von all dem Material, das zum Teil sehr persönlich war. Was gibt mir das Recht, dieses zu lesen? Es zu einem Theater zu verarbeiten? Die Antwort fand ich im Geschriebenen: Offenbar hatte sie, als ihr Mann gestorben und sie nach Muri gezogen war, einen Fernkurs für literarisches Schreiben in Hamburg absolviert und mit dem Ge­danken gespielt, ihre Lebenserinnerungen zu veröffentlichen. Dies gab mir die Gewissheit, dass es nicht falsch war, was ich tat.

Die Arbeit am Stück war eine intensive Auseinandersetzung mit dem Leben an sich, auch mit dem eigenen. Eine Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen, mit Vergänglichkeit und der Frage, was bleibt, wenn man nicht mehr ist. Leben wir in den Erinnerungen der andern weiter? Leben wir gar nur in den Geschichten weiter, die andere über uns erzählen? [...]

Was im Innersten Bestand hat. Was mich an der Auseinandersetzung mit diesem Material am meisten berührt hat: Dass sich mir durch die Texte, die sich über fast hundert Jahre erstrecken, ein ganzes Leben ausbreitete und ich quasi aus der Vogelperspektive darauf schauen konnte. Zu sehen, wie sich das Leben entwickelt, wie manches bleibt und anderes geht und welche Entscheide bedeutsam waren. [...]

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REGISSEUR INSZENIERT THEATERSTÜCK MIT TAGEBUCH SEINER GROSSMUTTER

Aargauer Zeitung, 14.2.2013

[...] Alles begann mit dem Vergessen: Sebastian Krähenbühl kannte seine Grossmutter Silvia nicht sehr gut, doch er bemerkte, dass sie sich veränderte, als ihre Demenz sie langsam Dinge vergessen liess. «Geschichten, die sie oft erzählt hatte, wurden plötzlich anders, sie vermischte Sachen. Das Spannendste war, dass die Frau, die ich als hart, beinahe gnadenlos gekannt hatte, auf einmal weich und sentimental wurde.» Die Faszination liess ihn nicht mehr los [...]. Er führte Videointerviews mit der über 80-jährigen Silvia. Und nach ihrem
Tod 2006 las er ihre Tagebücher und Briefe. So erfuhr er ihre Geschichte – und brachte sie auf die Bühne. [...]

Lange Zeit wusste Krähenbühl nicht, was er nun mit all den beschriebenen Seiten und Videoaufnahmen anfangen sollte. «Aber etwas musste ich machen, sonst hätte ich es ewig mit mir herumgetragen.» Der Schauspieler nahm sich ein halbes Jahr Zeit dafür. Zusammen mit Regisseur Lukas Bangerter und anderen entstand das Stück «Die Bedürfnisse der Pflanzen». Darin liest Krähenbühl aus Tagebüchern und Briefen vor, führt aber auch ein Interview, auf dessen Fragen Silvia von der Leinwand aus antwortet. «Ich habe mir sehr lange überlegt, ob ich das machen darf. Aber sie zeigte in ihren Briefen und einer angefangenen Autobiografie so viel Mitteilungsdrang, dass ich es vertretbar finde.» [...]

Der Titel des Stücks entstammt übrigens den Videoaufnahmen: «Einmal schaute meine Grossmutter ihre Topfpflanzen an und konnte nicht verstehen, weshalb deren Bedürfnisse nicht alle gleich sind. Sie sagte, es sei doch dasselbe Wasser und dasselbe Licht. Ich fand das sehr spannend.» [...]
az Aargauer Zeitung, 14.02.2013

PDF | 89 KBytes

KRITIK RADIO DRS 2

Kaa Linder, DRS 2, 26.5.2012

Sebastian Krähenbühl, 38 Jahre alt, steht auf der Bühne und unterhält sich mit seiner Grossmutter, deren Videobild auf eine Leinwand aus Leintüchern projiziert ist. Die Unterhaltung ist harzig, denn das Gedächtnis lässt die alte Frau immer wieder im Stich. Dann fällt ihr zum Beispiel nicht mehr ein, mit wem sie da gerade redet:

„Wotsch es wüsse?“
„Ja.“
„Ich heisse Sebastian.„
„Sebastian, wie wieter?“
„Krähiebüehl.“
„Krähiebühel, Sebastian Krähiebühl“

Die Begegnungen von Enkel Sebastian und Grossmutter Silvia sind heiter und tragisch in einem. Wenn die beiden sich gerade zu verständigen beginnen, reisst der Faden gleich wieder ab, oder man verheddert sich im Absurden, etwa wenn die gelernte Gärtnerin sich in ihrem Garten wähnt und über die unterschiedlichen Bedürfnisse der Pflanzen nach Wasser und Sonne rätselt. Diese kurzen Videosequenzen sind Auftakt und Abschluss einer grossen Spurensuche. Der Enkel ist auf den Estrich gestiegen um die Leintücher über der Vergangenheit buchstäblich zu lüften. Auf der Bühne kommt, zwischen Holzkisten Küchenmobiliar und einem Grammophon, die akribische Dokumentation eines Frauenlebens mit Jahrgang 1918 zum Vorschein. Schubladen voller Tagebücher, handgebundene Hefte und stapelweise Briefe. Zum Beispiel der Briefwechsel zwischen der tanzverrückten Silvia und einem Buben aus der Jugendbewegung Wandervogel, dem der Volkstanz körperlich suspekt ist, was Silvia elegant zu kontern weiss:

„Ihr Buben müsst den Tanz auch verstehen lernen, das kann man nur richtig wenn man selber tanzt, wenn ihr dabei glaubt die Distanz zu uns Mädchen nicht wahren zu können, so tanzt halt in einem Bubenring.“

Silvias Sprachbegabung, ihr Selbstbewusstsein und ihre differenzierte Wahrnehmung hätten aus ihr, der Tochter aus gutem Zürcher Hause, durchaus eine Künstlerin machen können, doch es kam anders. In den Kriegsjahren hilft Silvia auf dem Rebberghof aus, wo sie das krampfen und den Bauernsohn Werni lieben lernt. Sie heiratet und schuftet sich fast zu Tode:

„Es tut mir alles weh, der Hals, wo es mich jeweils würgte, im Oberbauch und um den Bauchnabel ein Klemmen und Plagen, im Unterbauch wie Steine, dazu im linken Kreuz und im rechten Ohr rupfen und plagen. Ich bin elend müde, ich quäle mich herum und denke, das ist die reinste Folter.“

Sebastian Krähenbühl geht in der Regie von Lukas Bangerter ganz nahe heran an diese Frau, von der er am Schluss leise sagt, er habe sie nie richtig gemocht. Und er geht den Verwerfungen in ihrer Biographie so furchtlos nach, als müsste er dabei etwas über seine eigene erfahren. Mal staunt er, mal schüttelt er den Kopf, mal redet er sich in Rage. Doch ist die Auseinandersetzung mit der ihm letztlich fremden Grossmutter aufrichtig und von einer emotionalen Grosszügigkeit, die beeindruckt, weil der Schauspieler sie immer wieder in Theater übersetzt. Zum Beispiel, wenn er das dozieren von Düngerkunde zu einem Walzertanz ausarten oder einen Briefwechsel als Dialog zweier Nachttischlitüren stattfinden lässt. Die «Bedürfnisse der Pflanzen» von und mit Sebastian Krähenbühl ist ein wundervolles Solostück über die Flüchtigkeit des Lebens, über die Schönheit des Vergessens und die Erinnerung, die ist wie ein Gewächshaus, in dem noch im ärgsten Winter die Kletterrosen Variationen tanzen.

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Kritik Pflanzen DRS 2 PDF | 30 KBytes

SEBASTIAN KRÄHENBÜHLS «BEDÜRFNISSE DER PFLANZEN»

Corina Freudiger, TA, 29.5.2012

Zurzeit hält echte Leben Einzug auf Zürichs Bühnen. Am Theater Spektakel setzte sich die Gruppe She She Pop mit ihren Vätern auseinander, Mike Müller führte für den «Elternabend» Interviews in einer Schule, Mats Staub befragte Menschen über ihr Liebesleben. Und nun widmet Sebastian Krähenbühl einen Abend seiner Grossmutter. Er bringt das Leben der 1918 in Zürich geborenen Silvia auf die Bühne, aber auch das Wesen des Erinnerns. Auf die Oma selbst kann er nicht mehr zählen. In Videoaufnahmen entpuppt sie sich als schlagfertig, aber dement. Wo steckt die Geschichte einer Person, wenn sie sich aus deren Kopf verflüchtigt hat?Sie steckt in den Dingen wie Francesca Merz` Bühne zeigt: Holztische, Kommoden und Stühle aufeinandergestapelt wie die Schichten, die ein Leben ausmachen.

Überall finden sich Zeugnisse dieses Lebens: Notizen in Schubladen, Bilder auf dem Nachttischschränkchen. Krähenbühl liest aus Tagebüchern, erweckt heissblütige Briefwechsel zum Leben, projiziert Fotos auf Leintücher, leidet sich durch die Jahrzehnte harten Bauern lebens in dem sich die Städterin Silvia nach ihrer Hochzeit mit Landwirt Werner wiederfand. Dabei wollte sie doch nur eines: schreiben. Weil sie dies trotz strengen Wintern, «stürmischem Rüsten» und einer zähen Ehe regelmässig tat, weil ihr Enkel sich sorgfältig, verspielt und ehrlich mit diesem Material auseinandersetzte, wird uns nun eine rührende Zeitreise geschenkt. Am Schluss will man länger klatschen, aber auch gleich nach Hause gehen, um seine Grosseltern anzurufen und nachzufragen wie es damals war.

TA Kritik Pflanzen, 29.5.2012 PDF | 168 KBytes

HOMMAGE AN EINE STARKE FRAU

Anne Suter, NZZ, 30.5.2012

«Die Bedürfnisse der Pflanzen» im Theater Winkelwiese

«Äigetli wüsst ich seer vil, aber s chunt nöd füre», sagt Silvia zu ihrem Enkel Sebastian - den sie allerdings nicht als solchen erkennt. Sie strahlt dafür umso mehr, als sie von der Verwandtschaftsbeziehung erfährt.

Der Zürcher Schauspieler und Regisseur Sebastian Krähenbühl besuchte seine zunehmend vergessliche Grossmutter Silvia Keller in den Jahren vor ihrem Tod regelmässig und zeichnete die Gespräche mit einer DV-Kamera auf. Es ist ein irrer Effekt, wenn Krähenbühl nun im Theater Winkelwiese mit der 2006 Verstorbenen spricht: er live, sie als Projektion auf einer Leinwand aus weissen Tischtüchern mit dem Monogramm «SK». «Die Bedürfnisse der Pflanzen» (Regie: Lukas Bangerter) heisst Krähenbühls am Freitag uraufgeführter, absolut sehenswerter Theaterabend, der sich um das Leben der eigenwilligen Silvia Keller dreht.

Geheime Tagebücher

1918 in eine Zürcher Künstlerfamilie hineingeboren, schloss sie sich als Jugendliche der Wandervogelbewegung an. Ihr Streben nach einer naturverbundenen Lebensweise liess Silvia in eine Bauernfamilie einheiraten. Als schwer schuftende Bäuerin merkte sie jedoch bald, dass ihre romantische Vorstellung vom Landleben nicht der Realität entsprochen hatte. Die in der Familie herrschende Kulturlosigkeit machte ihr je länger, je mehr zu schaffen.

Ihre Gefühle und Gedanken hielt Silvia Keller in unzähligen Tagebüchern fest. Ihr Enkel Sebastian fand diese nach ihrem Tod - und hat sie nun zum (neben den Gesprächen zweiten) Fundament des Theaterprojekts gemacht, mit dem er sein Masterstudium an der Hochschule der Künste Bern abschliesst.

Was würde wohl Silvia sagen, wenn sie wüsste, dass da ihr Persönlichstes öffentlich vorgetragen wird? Diese Frage stellt man sich als Zuschauerin immer wieder. Denn Silvias Tagebucheintragungen sind schonungslos ehrlich, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. So schreibt sie etwa über ihren Mann: «Muss denn sein dicker Bauch mein Schicksal sein?» Silvia hatte indes zeitlebens den Wunsch, etwas Literarisches zu publizieren, ja nach dem Tod ihres Mannes besuchte sie gar einen Schreibkurs, um eine Autobiografie zu verfassen, wozu es allerdings nicht mehr kam.

Heitere Erinnerung

Und so lässt nun halt der Enkel die Öffentlichkeit am Leben dieser aussergewöhnlichen Frau teilhaben - mit einer trotz der Schwere des Themas überwiegend heiteren Theaterproduktion, die nicht zuletzt auch Erinnerungen an die eigene Grossmutter und deren mannigfaltige Erzählungen weckt.

NZZ Kritik Pflanzen, 30.5.2012 PDF | 184 KBytes

DIE GROSSMUTTER UND IHRE GESCHICHTE

Karl Wüst, SFD, 26.5.2012

Der Zürcher Schauspieler und Autor Sebastian Krähenbühl bringt das Leben seiner Grossmutter Silvia auf die Bühne des Theaters an der Winkelwiese in Zürich. Sein Stück «Die Bedürfnisse der Pflanzen» ist am Freitag uraufgeführt worden.

Eigentlich habe er seine Grossmutter gar nicht so gern gehabt, der Grossvater Werni sei ihm näher gewesen, sagt Sebastian ganz am Schluss des 90-minütigen Abends. Man ist überrumpelt. Warum hat er dann in seinem Stück den Eindruck erweckt, seine Beziehung zur Grossmutter Silvia sei verständnisvoll, bisweilen sogar liebevoll?

Weisch du, wer ich bin?

In diese Richtung deutet schon der Einstieg, der nicht überraschender sein könnte. Sebastian spricht mit Silvia, die, als demente Frau gefilmt, verwirrt auf seine Fragen antwortet. «Weisch du, wer ich bin?» «Chunt nöd», sagt sie und lächelt.

Sebastian hat diese Gespräche geführt und gefilmt, als er feststellte, dass seine Grossmutter vergesslich und unselbständig wurde. Eine ihm nahe Lebensgeschichte drohte verloren zu gehen, ihr wollte er auf der Spur bleiben.

Als Silvia 2006 starb, stiess Sebastian auf zahlreiche schriftliche Zeugnisse von ihr: Tagebücher, Briefe, ein Theaterstück, Reden für Geburtstagsfeiern, Protokolle. Daraus hat er sein Sück geschrieben.

Eine Installation aus alten Möbeln, Lampen, einem Radio, Erinnerungsstücken bildet den Bühnenraum (Francesca Merz). Darin bewegt sich Sebastian unter der Regie von Lukas Bangerter erzählend, spielend, tanzend, singend und öffnet so dem Publikum die Tür zu Silvias Leben.

Das gelingt ihm trotz sprachlicher Unsicherheiten eindrücklich. Silvia, in gutbürgerliche städtische Verhältnisse hineingeboren, liebt die Natur. Sie lernt Gärtnerin und entwickelt ein Gespür und wissenschaftliches Interesse für «die Bedürfnisse der Pflanzen».

Sie schliesst sich der Bewegung der Wandervögel an und heiratet in eine Bauernfamilie hinein. Doch diese Welt zeigt sich im Alltag anders als erwartet. Die bäuerliche Lebenweise bleibt ihr fremd. «Diese brennende Sehnsucht nach Kultur und gar kein Verständnis meiner Umgebung», schreibt sie verzweifelt in ihr Tagebuch.

Neue Lebenslust

Nach dem Tod ihres Mannes Werni findet Silvia zu einem neuen Leben. Sie belegt Schreibkurse und nimmt an Tanzveranstaltungen für Seniorinnen und Senioren teil. Ihre pfiffige und emanzipierte Art im Umgang mit ihren Tanzpartnern bringt Sebastian Krähenbühl in seinen Tanzeinlagen schön zum Ausdruck.

Diese Einlagen beenden einen Theaterabend, der Geschichte und Gegenwart anhand einer eindrücklichen Frauenbiografie und mit allerlei technischer Raffinesse verbindet.

Bleibt die Frage, ob Sebastian seine Grossmutter tatsächlich weniger gern gehabt als seinen Grossvater. Oder ob seine intensive und lange Beschäftigung mit dem umfangreichen schriftlichen Material einfach nur zu einer Übersättigung geführt hat. Seine trotzig hingeworfene Aussage am Schluss könnte darauf hinweisen.

SFD Kritik Pflanzen, 26.5.2012 PDF | 51 KBytes

SCHMALER GRAT

Thierry Frochaux, P.S., 31.5.2012

Sebastian Krähenbühls Master-Arbeit im schwierig konkret fassbaren Fach «Science Arts Practice» an der Hochschule der Künste Bern ist eine von Lukas Bangerter hervorragend inszenierte Auseinandersetzung mit dem Leben der vor sechs Jahren verstorbenen Grossmutter. Der Grat zwischen Absturz ins einzig Private mit der Gefahr, die Oma vorzuführen, und der Glanzleistung, eine Epoche und ein Lebensgefühl anhand einer einzigen Vita exemplarisch aufzuzeigen, ist extrem schmal.

Das Problem kennen alle in und um die darstellenden Künste Tätigen: Wenn das Eigeninteresse an einem spezifischen Inhalt aus irgendwelchen Gründen übergross ist, droht die Fussangel der mangelnden kritischen Distanz, die im Resultat als gutgemeinte Betroffenheitsarbeit rauskommt und natürlich nicht befriedigt. Sebastian Krähenbühl schafft den Spagat während seiner rund neunzigminütigen Performance hauptsächlich gut, wenngleich er sich immer mal wieder gefährlich nahe an diesen Abgrund begibt. Was in «Die Bedürfnisse der Pflanzen» sehr gut gelingt, ist das quasi für die Bühne lebendig machen der Grossmutter, die als junge Frau aus urban-künstlerisch-intellektuellem Milieu in ein bäuerisch-ländlich-hemdsärmliges einheiratete. Dank mehreren Laufmetern Tagebuch, das sie über Jahrzehnte führte, ist ihr (Innen-) Leben während dieser für sie schwierigen Zeit sehr gut dokumentiert und ihre Betrachtungen über die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gehören zu den universell gültigen Aussagen über ein Frauenleben der Epoche. In dieselbe grundsätzliche Richtung als Fragen zur eigenen Existenz respektive der Menschheit als solches überhaupt, geht das Thema der schwerpunktmässigen Bestrebungen und Beschäftigungen während eines jungen/mittelalterlichen Lebens und der gegenübergestellten (hier durch Demenz stark abstrahierten) rückblickenden Erkenntnis im Alter. Zwar deutet bereits der Titel und die Eingangssequenz auf Video mit späterer Auflösung in der genauen Umkehr bereits darauf hin,
doch in anderen Fragestellungen dürfte dieser Zusammenhang ruhig sehr viel stärker hervorgehoben werden, damit er als eigentliches Goal der Arbeit erkennbar würde. Jetzt stehen Titel plus eine gefilmte Aussage von Silvia Keller, sie könne sich nicht erklären, weshalb ein und die selben Zimmerpflanzen in verschiedenen Töpfen unterschiedlich viel Wasser zum Überleben benötigten, auf der einen Seite, einem sehr profunden - und ungemein witzig inszenierten - Wissen über die chemische Zusammensetzung der Fauna und deren bestmöglicher Behandlung etwa durch Düngung in früheren Jahren gegenüber. Die Anlage ist entschieden da, geht sogar in der dargestellten Art weit über diese konkrete Frage hinaus, denn Themen wie Liebesheirat in unterschiedliche Milieus, das nötige Durchsetzungsvermögen als Frau in der Mitte des letzten Jahrhunderts oder die bare Härte, unterstützt von sehr deutlichen Einsamkeitsgefühlen eines Bäuerinnenlebens hinaus. Durch die vertikale wie horizontale Verteilung des ehemaligen Mobiliars auf jeweils drei Ebenen übernimmt Francesca Merz die Vielschichtigkeit eines Menschenlebens als Bühnenelement, das Sebastian Krähenbühl als Urheber wie Darsteller transportiert. Der annähernd teilweise sprunghafte Wechsel dazwischen dient vor allem der formalen Kurzweil
eines letztlich hauptsächlich erzählten Abends, steht dafür dem pointierteren Herausschaffen des Krähenbühl am meisten Beschäftigenden etwas im Weg. Dass die inhaltliche Gratwanderung ihre Auswirkung natürlich zuerst auf das Formale, letztlich aber sogar auf das Bühnenbild hat, zeugt vom Bewusstsein dieser grossen Schwierigkeit. Das Leben einer ziemlich nahen Verwandten mit einem emotionalen Andenken, das auf wolkigen bis klaren Erinnerungen basiert - das durch die Bearbeitung der Textmenge aber erst um zahlreiche weitere Facetten ein Erfassen einer ganzen Persönlichkeit ermöglicht, durch bühnenperformative Mittel miteinander zu verbinden und dabei grossmehrheitlich zu reüssieren, müsste als Master-Arbeit eigentlich eine genügende Punktezahl zur Folge haben.

Kritik Pflanzen P.S. S. .PDF | 295 KBytes

BERÜHRENDES DOKUMENTARTHEATER

Seniorweb Online, 28.5.2012

Silvia Krähenbühl, 2006 verstorben, war eine begabte Schreiberin. Minutiös hat sie in unzähligen säuberlich beschrifteten Tagebüchern ihr berührendes Schicksal festgehalten. Aufgewachsen in einem gutbürgerlichen, fortschrittlichen Stadthaus, entschliesst sie sich für eine naturverbundene Lebensweise. In ihrer Jugend engagiert sie sich in der Bewegung der Wandervögel, macht eine Gärtnerlehre und heiratet dann in eine Bauernfamilie hinein. Im Alter, nach dem Tod ihres Mannes, interessiert sie sich für kulturelle Angebote, macht Volkstanz, spielt Theater und absolviert einen Fernkurs für literarisches Schreiben.

Auf Spurensuche

Der junge Schauspieler und Regisseur Sebastian Krähenbühl macht sich auf Spurensuche, beackert die Tagebücher und Fotos der eigenen Grossmutter und macht daraus ein Dokumentarspiel. Entstanden ist ein berührendes Spiel um Erinnerungen und deren Deutung, das am Pfingstwochenende unter dem Titel «Die Bedürfnisse der Pflanzen» im Zürcher Kleintheater Winkelwiese seine Uraufführung erlebte. Eröffnet werden die Nachforschungen über ein fremdes Leben mit Videoeinspielungen, die kurz vor dem Tod der Grossmutter aufgenommen wurden. Die filmisch festgehaltenen Gespräche liefern ein erschreckendes Bild der Vergesslichkeit. Sichtbar wird eine demente Frohnatur, die sich kaum noch an ihre Liebsten erinnern kann. Von der einstigen Kämpferin ist nicht mehr viel zu spüren.

Und so wird aus den Tagebüchern zitiert, werden vergilbte Fotos auf einen TV-Bildschirm projiziert. Vieles bleibt nur angedeutet, einiges nachgespielt. Erkennbar wird ein Schicksal mit vielen Idealen und noch mehr Enttäuschungen. Erzählt wird die behütete Kinderzeit in gutbürgerlichem Milieu, dann die Zeit bei den Wandervögeln mit hohen moralischen Ansprüchen und Erwartungen, dann das harte und desillusionierende Leben auf dem Bauernhof, schliesslich der Aufbruch in kulturelle Aktivitäten. Gezeigt wird die subtile Annäherung an ein Leben, das doch fremd bleibt. Entspricht das dokumentierte Leben dem realen Leben der Grossmutter? Diese Frage bleibt unbeantwortet.

Starke Momente

Zu Beginn präsentiert sich eine mit weissen Leintüchern zugedeckte Bühne. Einmal entfernt, gleicht die Bühne einer Abstellkammer mit aufgestapelten Tischen, Stühlen und Kommoden. In den Schubladen sind die Tagebücher und Fotos untergebracht (Bühnenbild: Francesca Merz). Der Enkel Sebastian jongliert zwischen den Möbelstücken, holt Erinnerungsstücke hervor, liest aus den akribisch geordneten Tagebüchern und anderen Schriften vor, zeigt Jugendfotos, demonstriert zur Erheiterung des Publikums die Tanzleidenschaft der Grossmutter. Regisseur Lukas Bangerter zeigt kein lärmendes Drama, sondern erzählt, aufgelockert mit szenischen Einlagen, faktenorientiert und doch äusserst subtil das wechselvolle Leben der Grossmutter. Entstanden ist ein Dokumentartheater mit starken Momenten, das berührt und zum Nachdenken anregt. Sebastian Krähenbühl spielt den suchenden und fragenden Enkel sympathisch zurückhaltend und obendrein gekonnt theatralisch. Eine gelungene Inszenierung auf kleiner Bühne.

Kritik Pflanzen Seniorweb PDF | 831 KBytes

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