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DIE LEUCHTEN IN DER NACHT

art-tv.ch

Der Schweiz droht die atomare Katastrophe. Das Theater Marie bereitet uns darauf vor und lässt uns einen Blick auf die Folgen werfen. Wer bereit ist sich nachdenklich stimmen zu lassen, sollte das eindrückliche Stück von Gerhard Meister nicht verpassen.

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Beitrag auf art-tv


Ein Unfall in einem Schweizer AKW und seine Folgen, das kann man sich nicht vorstellen. – Stimmt, also versuchen wir es.

Es gibt einen einzigen politischen Entscheid, mit dem die Zerstörung des ganzen Landes bewusst in Kauf genommen wird, den Entscheid, Atomkraftwerke zu betreiben oder neu zu bauen.

Doch Tschernobyl ist lange her, ein Supergau hat sich seither nicht wiederholt, der Klimawandel hat der Atomindustrie einen scheinbar unschlagbaren Joker in die Hand gespielt, Deutschland probt den Ausstieg aus dem Ausstieg, die Gesuche für den Bau neuer AKWs in der Schweiz sind beim Bundesrat hinterlegt, selbst in Weissrussland, das zu einem Viertel verstrahlt ist, gibt es Pläne für eine neues Atomkraftwerk. So sieht die neue Lage in Sachen Kernenergie aus. Aber die Atomkraft ist ihre beiden monströsen Pferdefüsse nicht losgeworden. Noch immer würde keine Versicherung der Welt einen Supergau versichern, noch immer gibt es für radioaktiven Abfall nirgends ein Endlager. Besonders beunruhigend sind die Bemühungen der Atomindustrie, die Betriebsfristen für schon bestehende Werke um Jahrzehnte zu verlängern. Niemand behauptet, dass Atomkraftwerke sicherer werden, indem sie altern. Aber eben: amortisierte Atomkraftwerke sind für die Elektrokonzerne regelrechte Geldschleudern mit Gewinnen von einer Million Franken pro Tag.

Basler Zeitung

ALLTÄGLICHE APAKALYPSE

Kampagnentheater im Aargau: Dem Stromkanton sollen die Sympathien für die Atomenergie ausgetrieben werden. Kern davon ein sehenswertes Stück des Theater Marie.

Heimtückisch ist die radioaktive Strahlung. Sie wird erst dann wahrgenommen, wenn es unwiderruflich zu spät ist. Bleibt solange hypothetische Bedrohung, bis sie Weltenvernichter ist. Das ist die Lehre von Tschernobyl, aber wer weiss überhaupt noch, was da los war?

«Tschernobyl, das ist schon gar nicht mehr wahr, so lange ist das her», lässt Gerhard Meister seinen Protagonisten in «Die leuchten in der Nacht» sagen. Die Auftragsarbeit für das Theater Marie hatte in Aarau letzte Woche Uraufführung. Am passenden Spielort: Im Aargau stehen drei der fünf Schweizer Atomkraftwerke. Das Stück ist eingebettet in ein Rahmenprogramm mit Vorträgen und Debatten. In der Absicht, der in der Schweiz aufkeimenden Atomstromrenaissance entgegenzuwirken.

szenarien. Meister hat das scheinbar Unkalkulierbare durchgedacht. Was wäre, wenn einer der Reaktoren im Mittelland einen Störfall hat, der sich zur Katastrophe auswächst. Wenn der Fall eintritt, dessen Wahrscheinlichkeit auf «einen halben Meter Nullen hinter dem Komma» kleingerechnet ist, wie es im Stück heisst. Schnell steht fest, dass sich einige durchaus die Mühe zur Kalkulation gemacht haben: Banken und die Basler Chemie ziehen ihre Notfallpläne aus der Schublade und verlassen die Schweiz, weil «Geld nicht in einem verseuchten Land bleibt».

Zurück bleiben jene, die nicht weg wollen oder können. Wie jener Verzweifelte (Philippe Graber), der nicht wahrhaben will, dass dieser 0,0000001-Fall eingetreten ist und das gutschweizerische Wertesystem vom Recht des Stärkeren aufgefressen wurde. Graber verleiht der Rolle mit seinem eindringlich klaren Schauspiel die nötige Glaubwürdigkeit. Er dreht das Überspitzte ins Normale. Noch stärker: Herwig Ursin als wirr gackernder Sascha, dessen Hirn und Haut in der Todeszone langsam wegschmelzen.

visionen. Auch wenn die politische Folie sich im Verlauf des Stücks löst – denn es sind im Grunde vier Einzelgeschichten, die da vom Autor erzählt werden –, hält die Aufführung die Spannung. Weil überzeugend vorgetragen wird, wie Meister sich den Alltag in der Apokalypse vorstellt: Mit Pickups samt verrohten Schergen auf der Ladefläche, die sich bekriegen, mit Polizeikommandanten und Militärs, die die Schweiz unter sich aufgeteilt haben, mit Kindern, die über Atommüllfässern (das Mittelland wird von der EU als Endlager genutzt) Frösche braten.

Hypothetische Spinnerei vielleicht. Beklemmend auf jeden Fall.

Renato Beck, Basler Zeitung, Kultur, 23. März 2010

Aargauer Zeitung

LEBEN IM VERSTRAHLTEN MITTELLAND

Die Schweiz nach einem GAU: Gerhard Meisters neues Stück «Die leuchten in der Nacht» wurde vom Theater Marie am Mittwoch in der Tuchlaube in Aarau uraufgeführt.

Was wäre, wenn...: ein Atomkraftwerk in der Schweiz schwer beschädigt würde und die Havarie nicht mehr zu kontrollieren wäre? GAU schreibt sich das Kürzel für das grösstmögliche Grauen. Wissenschafter lieferten Zahlen für das Unvorstellbare, Atomkraftgegner die Worte. Gerhard Meister hat fürs Theater Marie nun aus solchen Gedankenspielen ein Theaterspiel gemacht. «Die leuchten in der Nacht» wurde in der Tuchlaube in Aarau uraufgeführt.

Meisters Ansatz: Des Schweizers Schweiz ist auf den Kopf gestellt. Das Mittelland ist verstrahlt, mit einer Betonmauer eingefriedet, politisch zweigeteilt und wird von Diktatoren regiert. Nichts geht mehr. Die Strassen sind nur noch schlecht befahrbar, der öffentliche Verkehr steht still, und die EU nutzt das Mittelland als Endlager für radioaktive Abfälle.

Was für ein Leben für die wenigen Überlebenden in dieser versehrten Landschaft (Bühne: Renato Grob)! Da lebt noch ein «Mann in der Wohnung» (Philipp Graber), ein Rationalist, der das Inferno nicht wahrhaben will und allmählich doch merkt, dass er in der Hölle lebt. In seinem Zynismus und seiner Ambivalenz die spannendste Figur des Stücks. Da ist die «Frau aus dem Hubschrauber» (Francesca Tappa), die zu ihrem 25. Geburtstag einen Helikopterflug über die verseuchte Landschaft geschenkt erhielt und nach dem Heli-Absturz mit ihrem Alex durch die verseuchte Landschaft irrt und davon erzählt, als wärs ein Gaudi gewesen. Da vegetiert Sascha (Herwig Ursin), ein wirr Stammelnder im pantomimischen Spiel mit einer Leiche in Skifahrermontur. Irrsinn als eine Reaktion auf den Wahnsinn. Und schliesslich eine Journalistin auf dem Weg zum Interview mit dem Staatsoberhaupt. Miriam Japp spielt diesen argumentativen Gegenpart zum «Mann in der Wohnung» unaufgeregt nüchtern.

Doch was tun diese vier Menschen in diesen hundert Minuten? Sie erzählen, erklären, stammeln. «Die leuchten in der Nacht» ist ein Sprechstück aus Monologen. Verknüpft werden die Figuren fast nie. Eine schwierige Aufgabe für die Regie, hier überhaupt eine dramatische Spannung aufzubauen. Also setzt Nils Torpus mit seinem fein agierenden Mini-Ensemble auf Monotonie und spielt mit der Spannung, die im Thema liegt. Bald werden wir ja wieder ganz konkret vor die Alternative gestellt: Atomkraft – ja oder nein? In Aarau wie anderswo.

Marco Guetg, Aargauer Zeitung, 19. März 2010

WOZ

ALLEIN MIT DER KATASTROPHE

Das neue Stück von Gerhar Meister und dem Theater Marie spielt vierzig Jahre nach dem Unfall in einem Schweizer AKW. Ein Versuch, die Folgen eines Super-GAUs vorstellbar zu machen.

«Kaliumiodid 65 mg Armeeapotheke ist ein Notfallmittel, das in der angegebenen Dosierung die Schilddrüse sättigt und damit bei einer Gefährdung durch Radioaktivität die Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse verhindert.»

Die Frau auf dem Einwohneramt hatte mir die Medikamentenpackung mit
einer Broschüre zur Stadt, diversen Gutscheinen und einem gastfreundlichen Lächeln über die Schaltertheke geschoben. Ab sofort war ich in Biel nicht nur stimm- und wahlberechtigt. Sondern auch in unmittelbarer Nähe zu einem Atomkraftwerk wohnhaft. Die Packung mit den zwölf Iodtabletten liegt seither griffbereit im Küchenschrank. Fast täglich erinnert sie mich an das ein paar Kilometer entfernte AKW Mühleberg.

Schlimmstmögliche Wende

Gefahrenzone 2. So richtig beunruhigen tut mich das nicht. Es gibt Schlimmeres. Und so sitze ich im Kleintheater in der historischen Tuchlaube in der beschaulichen Aarauer Altstadt mitten im schönen Atomkanton - und schaue mir das Stück an das Gerhard Meister
im Auftrag des Theaters Marie geschrieben hat. Ausgangspunkt: ein Unfall in einem Schweizer AKW. So ein Unfall und seine Folgen, das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, schreiben die Theaterleute. Und fügen hinzu: Also, versuchen wir es.

Die Aufgabe, die sich Regisseur Nils Torpus und die Schauspielerinnen Miriam Japp, Francesca Tappa, Philippe Graber und Herwig Ursin gestellt haben, war schwierig. Nicht nur, dass sich die Folgen eines solchen Unfalls tatsächlich nur mit viel Fantasie und dem nötigen Wissen vorstellen lassen (Meister ist im Rahmen seiner Recherchen
bis nach Tschernobyl gereist). Für hundert Minuten die Normalisierung des latenten Ausnahmezustands aufzubrechen und das Tor in jene Bewusstseinsregion zu öffnen, in der die Ausnahme zur Regel und die Katastrophe zur Realität wird - dieses Vorhaben ist eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Schlimmstmögliche Wenden verkommen auf der Bühne leicht zum Abklatsch kollektiver Vorstellungen, die von den Bildern einschlägiger Filme vorgestanzt sind. Die Permanenz der Katastropheninszenierung, diese Geilheit, sie ist Teil der Verdrängung.

Gerhard Meister weiss das. Er platziert das Geschehen nicht ins Spektakel der Hysterie unmittelbar nach dem fatalen Schmelzen des Reaktors. Die vier Figuren in «Und die leuchten in der Nacht» halten ihre Monologe «Jahrzehnte nach dem grossen Unfall» - allein mit der Katastrophe, allein in der sozialen Wüste: die Journalistin (Miriam Japp), die sich auf dem Weg zu einem Interview im ehemaligen Zürcher Hotel Dolder, in dem der «Diktator über die Gebiete östlich der Reuss» residiert, in die verstrahlte Zone wagt und doch distanzierte Beobachterin bleibt; die Touristin (Francesca Tappa), die bei einem Heliskiing Ausflug in die Schweizer Alpen notlanden muss und den Aufenthalt im verseuchten Gebiet als «krasses Erlebnis» beschreibt; der
Todkranke (Herwig Ursin) der weit ab von allen Menschen vegetiert - und nur noch vor sich hin halluziniert; und schliesslich ein Zyniker (Philippe Graber), der sich gar nicht erst auf die Idee einlässt, dass da ein Super GAU passiert sein könnte und sich in seiner Wohnung einigelt.

Wenn etwa Tappa die Erzählung der Touristin in einlullend sich wiederholender Melodie vorträgt oder Japp in stupender Nüchternheit das Geschehen rapportiert, sind das magische Momente der Vergegenwärtigung, wie sie am ehesten im Theater möglich sind: Zwischen den Worten entfaltet sich ein durch die gemeinsame Vorstellung entstandenes Bild. Der Unfall in einem Schweizer AKW und seine Folgen - er wird annähernd vorstellbar.

Verharmlosungsetüden

Das Bühnenbild, die Leuchtlämpchen, das alles hätte es dazu nicht gebraucht. Ein leerer Raum hätte die Imagination noch weiter getrieben in die abgründigen Tiefen weit hinter dem Reden über die Katastrophe. Gezeigt wird umso eindrücklicher wie katastrophal tief die Verdrängung sitzt - und wie weit sie gehen kann. Als hätten wir die Verharmlosungsetüden über all die Jahre nur deshalb so fleissig geübt um dereinst den tatsächlichen Super GAU noch virtuoser verdrängen zu können.

Das Ausmass der kollektiven Verdrängung ist vor allem politisch interessant und wirtschaftlich: «Es gibt einen einzigen politischen Entscheid mit dem die Zerstörung des ganzen Landes bewusst in Kauf genommen wird: den Entscheid Atomkraftwerke zu betreiben oder neu zu bauen», schreibt Meister zu seinem Stück.

Wenn der Wind von Westen kommt

Ausgerechnet der Klimawandel hat der Atomindustrie einen Joker in die
Hand gespielt. Das Energieunternehmen Axpo hat unlängst eine Bilanz
veröffentlicht, die belegen will wie umweltfreundlich das AKW Bernau sei (siehe WOZ Nr 8/10). Derzeit sind beim Bundesrat drei Gesuche für den Bau neuer Atomkraftwerke hinterlegt. Als stimmberechtigter Bewohner des Kantons Bern darf ich mich 2011 zu einem neuen AKW äussern - in einer konsultativen Abstimmung.

Bereits hat Kurt Rohrbach, der Direktionspräsident der Bernischen Kraftwerke, seiner Überzeugung Ausdruck verliehen dass das Berner Volk Ja zu einem neuen AKW in Mühleberg sagen wird. Die Atomindustrie ist zuversichtlich. Das bisherige Kraftwerk erhielt im vergangenen Dezember eine unbefristete Betriebsbewilligung - obwohl
längst bekannt ist, dass die Risse im Kernmantel ungebremst weiterwachsen: «Gut möglich, dass bei einem heftigen Erdbeben die Kühlleitungen abreissen, der Kernmantel nicht dichthält, die Brennstäbe freigelegt werden und es zur Kernschmelze kommt», schreibt die Organisation Forum Anti Atom (siehe WOZ Nr 1/10). Sollte dann der Wind von Westen her blasen - lese ich im Zug zurück nach Biel vorbei an Gösgen -, wäre das Gebiet von Bern über Luzern und bis an den Bodensee radioaktiv verseucht.

Über drei Millionen Menschen leben in diesem Gebiet. Alle müssten sie
langfristig umgesiedelt werden. «Jede Umsiedlung dieser Grössenordnung wäre eine massive Kolonisierung der lateinischen Schweiz durch die katastrophenvertriebenen Deutschschweizer»,
schrieben Hans Peter Meier und Rolf Nef in ihrer Studie «Grosskatastrophe im Kleinstaat» aus dem Jahre 1990. Aber auch das werde ich problemlos verdrängen. Anstrengungslos automatisch. Zu Hause in Gefahrenzone 2 öffne ich den Küchenschrank. Sie sind noch
da.

Adrian Riklin, WOZ, 25. März 2010

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DRS2- Vorschau

DIE ATOMKATASTROPHE LEUCHTET IM THEATER

Man stelle sich vor, eines der Schweizer Atomkraftwerke ginge eines schönen Tages kaputt. Undenkbar? Genau deshalb nimmt sich der Schweizer Dramatiker Gerhard Meister dem Thema an.

Ein Reaktorunfall wären ebenso verheerend, aber in seinen Ausmassen auch unvorstellbar. Gerhard Meister, der Dramatiker mit dem sicheren Sinn für gesellschaftliches Unbehagen, nimmt das AKW-Restrisiko als Ausgangslage für sein neues Stück «Die leuchten in der Nacht».

Unter folgenden Link können Sie den Beitrag nachhören:

Beitrag auf DRS2

von Kaa Linder, DRS 2, 17. März 2010

Zueritipp

DIE JAHRE DANACH

Gerhard Meister malt in seinem Auftragsstück ein Bild vom atomaren Super-GAU in der Schweiz.


«Atomkraftwerke, das sind die 80er, 70er, das ist das tiefste letzte Jahrtausend mit einem von diesen Nein-Danke-Klebern, den sich einer von diesen besseren Menschen hinten auf den Döschwo geklebt hat damals. Das hat doch mit heute nichts zu tun. Tschernobyl, das ist schon gar nicht mehr wahr, so lange ist das her.» Der Mann, der da im Bademantel und Tennissocken moniert, dass ein GAU genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sei wie eine tödliche Blutvergiftung mittels Kronkorken, dürfte für sein Gedankengut im Publikum Sympathisanten finden. Im Gegensatz zu denen allerdings muss er erkennen, dass die atomare Vergiftung bereits stattgefunden hat.

Sperrzone Mittelland

In seinem Stück «Die leuchten in der Nacht» exerziert der Berner Autor Gerhard Meister die Folgen eines GAU durch. Nicht irgendwo, sondern mitten in der Schweiz. Die Zeit: «Jahrzehnte nach dem grossen Unfall». Das Mittelland ist verseuchte Sperrzone und Endlager, durch eine Betonmauer eingegrenzt. Die grosse Hysterie ist längst vorbei. Man hat versucht sich einzurichten in der Katastrophe, jeder auf seine Weise. Zwischen Haufen weisser Lichterketten, die auf der schwarzen Bühne wie riesige Skelette wirken, halten vier Figuren ihre einsamen Monologe. Verbunden sind sie einzig durch die Katastrophe.

Da ist die distanziert berichtende Journalistin (Miriam Japp), die auf dem Weg zum ehemaligen Hotel Dolder, der Residenz des neuen Diktators, verstrahlten Kindern und schwerbewaffneten Militärs begegnet; da ist Philippe Grabers zynischer Mittelstandsbürger, der das Unglück nicht wahrhaben will und dem Publikum mitunter unangenehm den Spiegel vorhält. Da ist die «Frau aus dem Helikopter» (Francesca Tappa), die bei einem Heliski-Ausflug über der Todeszone abstürzt und naiv staunend vom Herumirren durch glühenden Landschaften erzählt, und schliesslich Sascha (Herwig Ursin), der Eremit, der fernab der Zivilisation eine Leiche in Skimontur findet und an ihrer Seite, dem Irrsinn nahe, gegen seine Schmerzen anstammelt.

Viel passiert in der Inszenierung von Nils Torpus und dem Theater Marie nicht. Doch die unaufgeregte und glaubwürdige Schilderung von etwas, das man nur erahnen kann, berührt. Meister hat beklemmende Worte gefunden, jenseits jeder Katastrophen-Geilheit. Nach 100 Minuten bleibt auf der Bühne ein toter Skifahrer zurück und im Saal der Wunsch nach einem Nein-Danke-Aufkleber.

Isabel Hemmel, Zueritipp, 01. April 2010

DIE LEUCHTEN IN DER NACHT - P.S.

UNBEHAGEN IM BAUCH

In vier voneinander unabhängigen Monologen beleuchtet Gerhard Meister das Leben nach der atomaren Katastrophe. Die Hauptschwierigkeit diesen Stückauftrag des Theater Marie für die Bühne zu adaptieren, liegt darin, dass sich die vier Figuren weder in Zeit noch Raum je begegnen und ein Strang rein erzählerisch bleibt. Nils Torpus Inszenierung von «Die leuchten in der Nacht» schafft diese Schwierigkeit zwar nicht aus der Welt stellt aber trotzdem eine zunehmend surrealere Endzeitstimmung her.

Philippe Graber hockt der Hitze wegen im Unterleibchen in seiner Wohnung und versucht mit distanzierender Abschiebung der unglaublichen
Ereignisse um ihn herum, die Verarbeitung der Katastrophe an die Vernunft zu delegieren. «Was hat das mit mir zu tun?», fragt er und findet zahllose Entsprechungen von Unglücksfällen auf der Welt, die ihn über das Anschauen am Fernsehschirm hinaus überhaupt nicht tangieren. Er verdrängt die eben erst stattgefundene Atomkatastrophe wie heutige Verharmloser der Klimaerwärmung mit dem Satz «ein paar Grade wärmer kann Zürich ja nicht schaden». Ihm gegenüber sitzt Miriam Japp als investigative Journalistin, die vierzig Jahre später von einem der beiden Diktatoren, die die Deutschschweiz unter sich aufgeteilt haben, zum Interview eingeladen wurde. Ihre Schilderung der Umstände, denen sie beim Einreisen begegnet und der endzeitlichen kriegsähnlichen Kulisse auf der von Militärs bewachten Durchreise erinnern an Reportagen von Kriegsberichterstattern, und der letztlich ganz kurzfristig verschobene Interviewtermin, der wegen wichtiger Staatsgeschäfte vielleicht in einer Woche stattfinden kann, zeugt von der auf Glaubwürdigkeit bedachten Recherchearbeit des Autors - manche Auslandkorrespondentlnnen könnten von der
Willkür in der Gunst von absoluten Herrschern über (Teil-) Gebiete Bände schreiben. Den dritten Blick auf die Katastrophe liefert Herwig
Ursin als vermutlich Halbwüchsiger, der nicht nahe genug am Reaktor lebte um den Unfallfolgen sofort zu erliegen. Äusserlich wirkt er
so genannt gesund, nur sein Verstand hat sich statt weiter- zurückentwickelt. So spielt er mit einem Toten am längst nicht mehr befahrenen Bahngleis mal in der Rolle des Sanitäters, dann des besten Freundes und zuletzt mit Skihelm und Jacke der leblosen Figur. Seine nicht mehr durch Vernunft kanalisierbaren emotionalen Ausbrüche sind Ausdruck eine Art wahnhafter Demenz und in der Unmittelbarkeit der Darstellung die eindringlichste Folgebeschreibung eine radioaktiven Katastrophe. Zuletzt kommt die in Realität hochschwangere Francesca Tappa zum It-Sport schlechthin, dem Heli-Skiing in den nur schwach radioaktiv verseuchten Schweizer Bergen. Auf dem Rückflug stürzt sie im Niemandsland ab und kann überhaupt nicht verstehen, was sie da sieht, wo sie da hineingeraten ist und weshalb ihr Tagesausflug genauso wie ihre ignorante Grundhaltung der Welt gegenüber landläufig als Ausdruck von Dekadenz gilt. Gerhard Meister hat sich vier
sehr unterschiedliche Figuren und Blickwinkel auf die praktisch mögliche Atomkatastrophe ausgedacht und schafft es so, die Absurdität unseres sorglosen Umgangs mit der Atomenergie, ohne dabei zu didaktisch zu werden, zu hinterfragen, wenn nicht gar anzuprangern. Die Bühne überschwemmt Andy Giger mit Leuchtstoffröhren und kiloweise Adventslämpchen, die fast unmerklich hochgedimmt werden und im Augenblick ihres stärksten Leuchtens für eine kurze Irritation sorgen: Wird es augenblicklich heisser, sind es die vielen Zuschauerinnen oder ist es eine Selbsttäuschung, die aus optischen Reizen und inhaltlicher Beschäftigung eine mutmassliche körperliche Veränderung anzeigen? Spätestens in diesem Augenblick schafft es die Inszenierung von Nils Torpus über den rein intellektuellen Zugang hinaus in den Raum zu greifen und das konstruierte Unwohlsein
dort zu deponieren, wo es sich nicht mehr klar identifizierbar analysieren und damit abschwächen lässt: im Bauch Die Schwierigkeiten der Textanlage führen zwar teilweise zu einigen gefühlten Längen und wenig zur Dramatisierung geeigneten Sequenzen, das Gesamtbild jedoch bleibt einnehmend engagiert.

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