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FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN

FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN - NACHTKRITIK

Nachtkritik.de

«Fast ein kleines Regiewunder»

von Charles Linsmayer

Wow, denkt man, wenn man Johannes Schrettles zwischen 2002 und 2004 entstandenen, 2005 in Osnabrück uraufgeführten Erstling mit dem leichtgewichtigen Titel «FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN» auf dem Papier liest: Wie kann ein Text mit soviel Theorie auf der Bühne zum Leben erweckt werden? Da wimmelt es von Ausdrücken wie Autonomie, Anarchie, Ressourcen, Workshop, Globalisierung, Bio und Strapazieren, da spricht ein Polizist von Metaphern und ruft, immer, wenn es ihm «kommt»: «Nie wieder Faschismus!»
Dann sieht man die schweizerische Erstaufführung des Stücks, die Hannah Steffen im Zürcher Kleintheater Winkelwiese eingerichtet hat, und merkt wieder einmal, dass ein Text, von einer einfühlsamen, einfallsreichen Regie in Szene gesetzt, eine wunderbar klärende Wandlung durchmachen kann, ohne dass ein einziges Wort gestrichen würde.

Eine Ratte namens Freiheit

Was in Zürich präsentiert wird, ist zunächst einmal ganz einfach eine Liebesgeschichte, «wie sie das Leben schrieb». Der hypochondrische, an einer wohl psychisch bedingten Mundfäule leidende Swazy und die fröhlich-unbedarfte, immer lächelnde, die schönen Seiten des Lebens genießende Helga sind ein Paar – bis die junge Frau das ewige Lamentieren des jungen Mannes satt hat und sich in einen Polizisten namens Holger verliebt, der sie auch schon mal auf einen Helikopterflug mitnimmt, bei dem dann allerdings Helgas Ratte, die beziehungsvoll auf den Namen Freiheit hört, zu Tode kommt und die Beziehung in erste Schwierigkeiten gerät. Swazy aber kommt, obwohl die psychologisch vorbelastete Anke ihm seine Komplexe auszutreiben sucht, mit dem Verlust nicht zu Rande. Während Helga erst mal bei Anke einzieht, findet sich Swazy am Ende in der Wohnung des Rivalen wieder und erzählt, nachdem er sich mit dessen Pistole einen tödlichen Schuss versetzt hat, in einer Art finalem Delirium von einem braven Spießerleben mit Glotze und Abendspaziergängen, dem er sich von nun an mit Freude verschreiben wird.

Stilisierte Steppdeckenwelt

Hannah Steffen lässt sich das Spiel in einem Ambiente entwickeln, das weit weg von der Bahnhofschmuddeligkeit der Osnabrücker Uraufführung ist und sich auf ein stilisiertes Arrangement aus großen bunten Steppdecken verlässt, die den Raum immer wieder neu einteilen und sich mal als Schlafsäcke und dann wieder als Betten verwenden lassen. Und sie lässt den vier Protagonisten viel Luft und Freiheit, um die einzelnen Szenen liebevoll-intensiv auszumalen und sich als unverwechselbare Charaktere zu profilieren, die dem Abend nicht nur etwas Leichtgewichtig-Komödiantisches, sondern auch etwas wie ein klar durchschaubares gruppendynamisches Konzept vermitteln.
Gerrit Frers spielt den Swazy mit voller Emphase als einen an sich selbst und an seiner Umwelt leidenden Schwerenöter, der von seinem als politisch deklarierten, aber psychologisch begründeten Minderwertigkeitskomplex buchstäblich erst durch den Selbstmord erlöst wird. David Allers mimt als Polizist Holger einen leutselig-lauten Macho-Typen, dessen tiefe innere Verunsicherung nur selten kurz an die Oberfläche tritt, bis er während des Helikopterflugs mit Helga einen eigentlichen Zusammenbruch erleidet. Petra Schmidig strahlt als Helga vor Lebenslust und naiver Zuversicht und lässt sich bis zuletzt nicht in der mädchenhaft-sinnlichen Leichtigkeit verunsichern, die dem Abend Momente von schwereloser Poesie verleiht. Nicole Tobler als Anke stellt Helga den sachlich-nüchterneren Typ einer Frau entgegen, die ihre Erfahrungen als «Ressourcen» für das psychologische Buch verwenden wird, mit dem sie einen Bestseller landen will.

Die Plausibilität des Politischen

Ob sie nun, wie aus der Perspektive von Helga, ironisiert und belächelt werden, ob sie in träfer Artikulation, Mimik und Körpersprache mit glaubwürdigem Sinn erfüllt werden: Die Versatzstücke des Politkauderwelsch verlieren in dieser Inszenierung alles Verfremdende und tragen durchaus dazu bei, das Scheitern der Beziehungen und Lebenserwartungen, mit denen uns die vier Biografien konfrontieren, als ein zeittypisches Phänomen erscheinen zu lassen.
«Orientierungslosigkeit» heißt eines der von Anke verwendeten Wörter, und wenn die Inszenierung etwas wirklich beweist, dann ist es dies, dass Beziehungs- und Liebesgeschichten uns um so näher gehen, je desolater und hoffnungsloser das Umfeld ist, aus dem sie, mit Politik befrachtet oder nicht, herauswachsen.

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FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN - TAGES ANZEIGER

TA, 15.11.2010

«Die dunkle Seite der Globalisierung»

von Andreas Tobler

Er nennt sich Swazy, ist Anfang zwanzig, und die Globalisierung scheint ihm mächtig zugesetzt zu haben: Swazy ist davon überzeugt, dass selbst sein organisches Innenleben vom Zustand unserer Welt bestimmt ist. Sein Bauch muss Teil «einer richtigen Ölkatastrophe» sein.
Swazy gehört zum Personal von «fliegen gehen schwimmen», einem Stück des österreichischen Dramatikers Johannes Schrettle, in dem er vier Menschen zwischen zwanzig und fünfzig zeigt, die von einem selbstbestimmten Leben träumen, aber gefangen sind in ihrer
Beziehungsunfähigkeit und ihrer Antriebs- und Orientierungslosigkeit. Nun ist das 2005 uraufgeführte Stück erstmals in der Schweiz zu sehen - in einer Inszenierung von Hannah Steffen und einem genialen Bühnenbild von Valerie Hess und Stefanie Schaad, in dem durch das Umhängen von Schlafsäcken jeweils neue Räume entstehen. Neben Swazy, dem Gerrit Frers mit vollem Körpereinsatz ein starkes Profil gibt, werden wir konfrontiert mit Helga (Petra Schmidig), die eine
Ratte namens Freiheit mit sich führt; dem Polizisten Holger (David Allers), der beim Orgasmus jeweils «nie wieder Faschismus» schreit; und mit Anke (Nicole Tobler), die allen - nur nicht sich selbst - helfen will.
Trotz der grotesken Überzeichnungen und Verdrehungen, die dem Abend eine heitere Leichtigkeit, den Figuren aber etwas Irres geben, wird man nicht bestreiten können, dass Schrettle mit seinen lebensunfähigen Figuren auf die dunkle Seite der Globalisierung zu verweisen vermag. Am Ende liegt Swazy mit einem Pistolenschuss im Bauch am Boden.

TA, Andreas Tobler, 15.11.2010 PDF | 115 KBytes

FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN - NZZ

NZZ, 15.11.2010

«Schlafsack - Welt»

von Anne Suter

Auf der Bühne schlafen zwei Menschen, während das Publikum im Saal Platz nimmt. Allerdings tun die beiden dies nicht liegend, sondern stehend in aufgehängten Schlafsäcken - ein ganz schön schräger Anblick! Auch im weiteren Verlauf des Theaterabends spielen Schlafsäcke eine wichtige Rolle, und zwar die altmodischen abgesteppten Daunenmodelle, die sich zu einer Decke öffnen lassen (und beim Ausschütteln stauben wie in jeder Ferienkolonie). Die Bühne besteht nämlich aus nichts weiter, als einem weissen Rechteck, das sich fast bis zur ersten Sitzreihe erstreckt. Mit Schlafsäcken in allen Farben, die je nach Bedarf am Boden ausgebreitet oder an Leisten auf
gehängt werden, entstehen raffiniert die unterschiedlichsten Innen und Aussenräume (Ausstattung: Valerie Hess und Stefanie Schaad).
«Helga ich versuch zu schlafen und diese Ratte läuft über mein Gesicht. Das hat mit Freiheit nichts zu tun!», tönt es als Erstes aus einem der zwei aufgehängten Schlafsäcke. Im Mittelpunkt von «fliegen gehen schwimmen» stehen zwei junge Menschen, die auf der Strasse leben; das 2005 uraufgeführte Stück des jungen Grazer Autors Johannes Schrettle wird im Theater Winkelwiese in einer Inszenierung von
Hannah Steffen als Schweizer Erstaufführung gezeigt. Während Helga (Petra Schmidig) nur so strotzt vor Unternehmungslust - «Wir könnten auch rausfahren, irgendwohin wo ein Bürgerkrieg oder eine Globalisierungsdemo oder so ist» -, wird ihr Begleiter Swayze (Gerrit Frers) gelähmt von einem unangenehmen Geschmack in seinem Mund,
den er auf die «faschistische Staatsform» zurückführt. Auf deren Vertre
ter, den unsicheren, immer wieder jäh aufbrausenden Polizisten Holger (David Allers) ist Swayze gar nicht gut zu sprechen, erst recht nicht, als er ihm Helga ausspannt. Da nützen auch die gutgemeinten Selbsthilfe - Sprüche der arbeitslosen Psychologin Anke (Nicole Tobler) nicht viel.
Die vier Personen treffen in kurzen, unvermittelt wechselnden Szenen aufeinander und reden dabei meist aneinander vorbei. «fliegen gehen schwimmen» zeichnet ein treffendes Bild junger Menschen, die orientierungslos durchs Leben schlingern, weil ihnen jeglicher Halt fehlt in der globalisierten Welt - auch wenn das Geschehen auf der Bühne gegen Schluss zuweilen etwas unverständlich wird.
Witzig sind jene Momente, in denen die Figuren die Theatersituation thematisieren: «Woher weisst du, wo ich bin? - «Ich bin einfach quer über die Bühne gegangen.« Oder: «Dann könnten wir vielleicht in der nächsten Szene im Hubschrauber sitzen!»

NZZ, Anne Suter 15.11.2010 PDF | 134 KBytes

FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN - P.S.

P.S. 18.11.2010

«Leiden»

von Thierry Frochaux

Vier Figuren mit der einzigen Gemeinsamkeit einer unbewältigten Orientierungslosigkeit treffen sich in Johannes Schrettles Text «fliegen gehen schwimmen» auf einer in Watte verpackten Bühne. Statt sich be
herzt des eigenen Lebens anzunehmen und Entscheidungen zu fällen drehen sie sich nur im Kreis. Die Figuren sondern politische Schlagworte wie «mein Bauch gehört mir» ab, ohne sich dabei darum zu scheren, ob Inhalt und Kontext der Äußerung nur schon im Entferntesten etwas gemein haben. In den verbalen Ergüssen zeigen die Figuren zwar Mut zu einer absoluten Haltung, die sie mit den bald darauf folgenden widersprüchlichen Handlungen sogleich wieder als offensichtlich unbewusst geäusserte Leerformel enttarnen. Was tönt, als stünde im Idealfall ein humoristisches Finale bevor, bleibt jedoch dauerhaft betont ernsthaft, was den Schluss nahelegt, dass sie nicht wissen was sie tun. Der Autor lässt die Figuren nicht etwa Genuss aus dieser Ohnmacht ähnlichen Leere ziehen, sondern verdammt sie zum Leiden an den Umständen, denen es an Stimulanz von aussen notabene nicht fehlt. Weder SchauspielerInnen noch die Regiesprache von Hannah Steffen irritieren an sich, denn die Inszenierung von «fliegen gehen schwimmen» vermittelt ein starkes Gefühl von bedrückender Ausweglosigkeit. Dafür bleibt die Intention des Autors,
ausser der Darstellung von Verlorenheit im Überfluss, eher im Dunkeln. Vermutlich liesse sich diesem haltlos durch den Irrgarten Leben
streifen einzig mit beherzter Handlung begegnen, doch steht diese Variante aus unerfindlichen Gründen offensichtlich gar nicht zur
Disposition. Stattdessen wird zur nächsten bedeutungsschwangeren Phrase gegriffen, die nächste sehnsüchtige Modeströmung zur Heilung der Verhältnisse herbeigesehnt, um letztlich doch einzig egoistischen Trieben zu folgen. Die so dargestellte Leere mit Aussicht auf nichts
weiteres wirkt zwar authentisch - aber es bleibt eine Leere.

P.S., Thierry Frochaux, 18.11.2010 S. F:G:S.PDF | 221 KBytes

FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN - ZÜRITIPP

Züritipp, 11.11.2010

«Freiheit, Du Ratte!»

von Isabel Hemmel

Hannah Steffen inszeniert ein preisgekröntes Stück über eine orientierungslose Generation in der Krise. «Helga ich versuch zu schlafen und diese Ratte läuft über mein Gesicht. Dann versuch ich wieder zu schlafen und diese Ratte läuft wieder über mein Gesicht. Das
hat mit Freiheit nichts zu tun!» Im Gegenteil: «Fliegen Gehen Schwimmen» von Johannes Schrettle handelt von einer Generation, die gefangen ist in einer sozialen und politischen Orientierungslosigkeit in einer globalisierten Welt. Da reicht es nicht, dass die besagte Ratte «Freiheit» heisst und der Bahnhof, in dem Swazy und Helga ihre Schlafsäcke ausgebreitet haben, Freiheit verspricht.
Helgas Vorschlag - «Wir könnten auch rausfahren irgendwohin, wo ein Bürgerkrieg oder eine Globalisierungsdemo oder so ist?» - ist wenig hilfreich bei der Bekämpfung des allgegenwärtigen Unwohlseins.
Das «Bäumchen Wechsle dich Spiel» mit Polizist Holger (Ende 30) und Ex - Psychologin Anke (Mitte 40) schafft zwar kurzzeitig Raum für private und politische Visionen Lebenslösungen ergeben sich
daraus aber keine.
Der österreichische Theaterautor Schrettle (*1980) schreibt «über private Situationen, in denen Menschen über Politik und Gesellschaft reden». Mit Betonung auf reden: Swazy, Helga, Anke und Holger sind
Teil eines skizzenhaft geschilderten Milieus, in dem Beziehungsversuche und politische Ambitionen am Ende im Reden über
private Befindlichkeiten verpuffen. Hannah Steffen (*1976) hat die Verortungsversuche der vier Figuren samt Schlafsäcken in Szene
gesetzt.

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