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JULI

Psychogramm des Wahnsinns
Iwan Wyrypajews «Juli» im Theater Winkelwiese
von Gina Bucher
NZZ vom 15. Dezember 2009

Gina Bucher ? «Im Juli gibt es keinen Honig. Da ist nichts zu machen, kein Honig und Schluss», klagt der ältere Mann während seiner Erzählung, wie er sich auf die Suche nach dem Smolensker Irrenhaus machte. Der ältere Mann, das sind auf der Bühne des Theaters Winkelwiese die beiden Schauspielerinnen Vivianne Mösli und Franziska Dick, die seinen rabiaten Monolog vortragen.

Aufbruch in die Verzweiflung
Juli, das ist Verheissung und Erinnerung zugleich, denn in jenem Sommermonat, da brannte des Mannes Haus inklusive seiner beiden Hunde nieder. Juli, das war jener Moment, als plötzlich alles weg war, was der Mann noch hatte. Juli, das ist mitunter ein Grund, warum der Aufbruch ins Irrenhaus ein beschwerlicher wird. Zuerst erfährt dies sein Nachbar Kolja, dann ein Obdachloser, später ein Pope. Alle bringt der Mann um, und als ob es damit nicht genug wäre, isst er sie auch noch auf. Zuerst aus Hass – später, wie er sich zu erinnern meint, gar aus Barmherzigkeit.

Schliesslich landet er zwar endlich, doch auch unfreiwillig im Irrenhaus, in dem er sechs Jahre verbringen wird. Hier erleidet er sein eigenes Martyrium, leidet Qualen, wird gefoltert und von Träumen sowie den Frauenbeinen einer Krankenpflegerin verfolgt. Diese gehören zu Janna M., die sich jetzt zwar plötzlich Nelly D. nennt, aber ganz sicher seine erste Liebe war.

Der lakonische Monolog des psychopathischen Serienmörders ist Einblick in die wirre Logik eines Irren. Nicht die Geschichte eines Monsters zeichnete der in Sibirien geborene, heute in Moskau lebende Autor Iwan Wyrypajew mit seinem Stück auf, sondern die Zerrissenheit einer gepeinigten Seele. Die Irrfahrt der Verzweiflung wird dabei zum Rachefeldzug eines «Randständigen», eines von der Gesellschaft Deformierten. Denn das Psychogramm des Wahnsinnigen entblösst nicht nur seine gespaltene Persönlichkeit, sondern entlarvt auch eine zutiefst gespaltene Gesellschaft.

Exzess auf nackter Bühne
Wyrypajews «Juli» ist die letzte der acht Randzonen gesellschaftlicher Ordnung, die das Theater Winkelwiese während dieser Herbstspielzeit vorstellte.

Der gesamte Exzess brachialer Gewalt konzentriert sich in der Inszenierung von Stephan Roppel auf den verbal starken Monolog. Der Kunstgriff, diesen von zwei Schauspielerinnen sprechen zu lassen, verdeutlicht zwar die Asymmetrien in der Logik des Wahnsinnigen. Gleichzeitig ist die Reduktion der Inszenierung auf Monolog und karge Bühne eine Herausforderung für die beiden Darstellerinnen, die Konzentration der Zuschauer während der knapp sechzig Minuten halten zu können.

Eine Irrfahrt durch das menschliche Bewusstsein
Iwan Wyrypajew gehört zu Russlands meistgespielten Gegenwartsdramatikern. Eines seiner Stücke «Juli» erlebte soeben am Theater Winkelwiese in Zürich seine Schweizer Erstaufführung.
von Kaa Linder, Radio DRS2 vom 15. Dezember 2009

«Juli» schildert eine Irrfahrt durch menschliche Bewusstseins-Zustände, phantastisch und albtraumhaft.

Hören: Eine Irrfahrt durch dass menschlich Bewusstsein

JULI - P.S.

IRRFRAHRT

Stephan Roppel entschliesst sich den wildmäandemden kraftvoll wahnsinnigen Text «Juli» wn Iwan Wyiypajew für die schweizerische Erstaufführung in der Winkelwiese mit zwei Schauspielerinnen zu inszenieren. Das unterstützt die Verwirrung der atemlosen Erzählung, erschwert dafür eine eindringliche Sogwirkung. [b]fett

Wutentbrannte Russen auf Irrfahrten zwischen Wahn und Wirklichkeit in derber Sprache und jähzornigen Ausbrüchen zeigte das sogar Theater mit Texten von Wenedikt Jerofejew bereits zweimal als Monolog für Thomas Sarbacher. Diese beiden Darstellungen brachten die eindringliche Präsenz auf die Bühne, die in «Juli» irgendwie fehlt. Der vulkanartige Ausbruch eines kraftstrotzenden Mannes, der aber
gleichsam zerbrechlich wie eine japanische Papierwand ist, ist für ein Publikum vielleicht einfacher anzunehmen, wenn die physische Präsenz den Text unterstützt. Stephan Roppel hat sich für einen tendenziell ähnlich heftigen und schwindelerregenden Trip dafür entschieden die Rolle auf Viviane Mösli und Franziska Dick aufzuteilen. Diese Entscheidung unterstreicht die Schwierigkeit zwischen Wahn, positiv geprägter Fantasie und absurd anmutender Realität einen klaren Strich zu ziehen, was der fiebrigen Tendenz des Textes durchaus dient und auf
der Bühne mit Wechselchörli oder Parallelsprechen erweiterte Spielmöglichkeiten lässt, als es ein Monolog würde. Nur ist Iwan Wyrypajews Text eines Mannes, dessen Haus abgebrannt ist, der zeitweise unter einer Brücke und dann unter der Pritsche eines Pfarrers wohnt und in der Anstalt die Pflegerin mit seiner Jugendliebe verwechselt und einem grünen Etwas an der Zimmerdecke kämpft, an sich schon verschroben genug, als dass es dafür noch zusätzliche
Verwirrung benötigte. Stephan Roppel wollte das Offensichtliche mit einem spielerischen Experiment umgehen und betont damit nicht die
klar daliegende russisch erdrückende Last sondern hellt sie durch die Umleitung sogar eher auf. Nur fehlt der Kick zur hellen Begeisterung.

Thierry Frochaux, P.S., 17. Dezember 2009

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