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KASPAR HÄUSER MEER

NZZ

Ohnmacht versinnbildlichen
Felicia Zellers «Kaspar Häuser Meer» in der Winkelwiese
Katja Baigger
NZZ, 30. Januar 2010

Dunkle Schatten haben sie unter den Augen. Die drei Sozialarbeiterinnen Barbara, Silvia und Anika befinden sich am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihr Arbeitskollege Björn fällt aus, was auf der Abteilung Kindsmissbrauch des Jugendamts irgendeiner Stadt zu «Björn-out-Syndromen» führt. Nun folgen 90 Minuten humorvoll-rasantes Theater über ein todernstes Thema. Der kryptisch wirkende Titel «Kaspar Häuser Meer» des Bühnenstücks der deutschen Autorin Felicia Zeller ist so etwas wie eine Steigerungsform. Gemeint ist ein Häusermeer voller Kaspar-Hauser-Kinder. Heutzutage heissen sie zum Beispiel Kevin. Es sind Fälle, auf die sich die Presse begierig stürzt: Der 2-jährige Bub aus Bremen starb im Jahr 2006 unter den Augen der Behörden, seine Leiche war im Kühlschrank gefunden worden. Das Theater Freiburg im Breisgau beauftragte Felicia Zeller, ein Stück über Misshandlung zu schreiben. Entstanden ist eine Sprachpartitur, welche die Schwere des Themas zeigt und gleichzeitig den Sozialarbeiterjargon ironisiert. So wird denn auch viel gelacht bei der Premiere der Inszenierung von Stephan Roppel. Der Regisseur gibt der Sprache und den Schauspielerinnen ihren Raum, was in diesem Fall goldrichtig ist. Ähnlich wie in der Uraufführungsinszenierung am Freiburger Theater lässt er die Darstellerinnen in einem weissen Würfel auftreten (Bühne: Petra Strass). Zwischen Papierstapeln rattern die routinierte Barbara (Vivianne Mösli), die alkoholkranke Silvia (Franziska Dick) und die Rabenmutter Anika (Andrea Schmid) 13 Kapitel – oder «Fälle» – hinunter. Es ist beeindruckend, wie sie Wortsalven über schwierige Schicksale wie Akten hastig aufeinanderstapeln und so die Ohnmacht versinnbildlichen. Dazwischen scheinen die Tragödien der Frauen auf. Barbara wünscht sich schliesslich eine Bach-Kantate für Sozialarbeiter, eine «O lass mich in Ruhe, Welt»-Hymne. Am Ende ist die ersehnte Ruhe da, eine bedrohliche Stille, die sich durch begeisterten Applaus verflüchtigt.

Brilliante Darstellerinnen der sozialarbeiterischen Verzweiflung

Drei Jugendsozialarbeiterinnen stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Die Schweizer Erstaufführung des Stücks von Felicia Zeller leuchtet ins Innenleben einer überforderten Branche.
Adrian Riklin, WOZ, 04. Februar 2010

Sie stehen vor je einem Stapel Papier, und je furioser sie die Formulare abarbeiten und sich in immer verzweifeltere Monologe versteigen, desto höher wird der Aktenturm. Was wir im Kleintheater in der Villa Winkelwiese voyeuristisch bewundern, ist die absurde Professionalität, mit der die Sozialarbeiterinnen Anika, Barbara und Silvia, sprachvirtuos interpretiert von Andrea Schmid, Franziska Dick und Vivianne Mösli, in einem Jugendamt ihren Dienst verrichten (Regie: Stephan Roppel). Dieser penetrante Jargon, heruntergeleiert bis zur Hysterie, gespickt mit Ausdrücken von der Gasse! Diese berufstypische Mimik, die innert Sekundenbruchteilen von empathischem Bedauern in pädagogische Strenge wechselt!

Heillos überfordert
Wir haben es mit Menschen zu tun, deren Beruf sie innert weniger Jahre an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Wiedergeboren in eine Gesellschaft, in der ein Mensch schon vor seiner Geburt zum Sozialfall prädestiniert ist, wäre Sisyphos heute womöglich eine Sozialarbeiterin. Nur: Wie sich der gesellschaftliche Druck auf das Innenleben dieser Berufsleute auswirkt, wird in der medialen Fixierung auf Themen wie Kindsvernachlässigung oder Jugendgewalt gern ausgeblendet. In «Kaspar Häuser Meer» verschiebt die 35-jährige Autorin Felicia Zeller den Fokus weg von den fotogenen Strassen im Problemquartier hinein in die traurigen Büros der Jugendämter. Wie genau sie dabei hinter die Kulissen der zeitgenössischen Sozialarbeit blickt und horcht, beweist der grosse Erfolg, mit dem das Stück von Zeller auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wird.
Gerade am Beispiel von Kindsvernachlässigungen zeigt sich, unter welchem Druck heute viele Sozialarbeiter Innen arbeiten. In vielen Fällen werden SozialarbeiterInnen mit massiven Vorwürfen konfrontiert. «Die Angst geht um unter den Sozialarbeitern, und sie wächst mit jedem Kind, das irgendwo in Deutschland stirbt», war in der «Zeit» vom 26. Mai 2008 zu lesen: «Immer hat das Jugendamt etwas gewusst, in Bremen, wo man die Überreste des kleinen Kevin in einem Kühlschrank fand, in Hamburg, wo ein Mädchen namens Jessica in einer Hochhauswohnung verhungerte, und in Schwerin, wo die Gross eltern der fünfjährigen Lea-Sophie vor deren Tod das Jugendamt noch gewarnt hatten, dass etwas nicht stimme. Nach dem Grundgesetz soll der Staat die elterliche Erziehung überwachen, und wenn ein Kind in Gefahr ist, muss er es schützen. Doch war um versagt er immer öfter? Was läuft schief in den Jugendämtern?»
Die Forderungen nach Verschärfungen im Strafrecht werden immer lauter, aus den gleichen Reihen erschallt auch das Verlangen nach Sparmassnahmen im Sozialbereich. Die Folgen bekommen die Fachleute auch hierzulande zu spüren. «Das latente Zu-Spät-Kommen, das ständige Bemühen, der ablaufenden Zeit planerisch nachzujagen», schreibt die Autorin zu ihrem Stück, «dieses Hinterherhinken bei gleichzeitigem Bemühen darum, schneller zu sein, prägt die berufliche Existenz der Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst.»
Permanenter Notfall
Chronische Zeitnot bestimmt die Dramaturgie der Misere: «Können wir das nicht am Dienstag klären?» Damit verbunden ist zum Himmel schreiende Frustration. War der Beruf mit der seltsamen Betonung des Begriffs Arbeit bis in die achtziger Jahre noch stolze Selbstbezeichnung für ein soziales Engagement aus Profession, so hat sich sein Ruf in den vergangenen Jahren verschlechtert. Vorbei die Zeiten, da man, getragen vom Glauben an das Gute im Menschen und an die Veränderbarkeit der Zustände in die gesellschaftlichen Problem zonen ging. Die zeitgenössische Sozialarbeiterin, das zeigt Zellers Stück präzis zugespitzt, zeichnet sich durch einen Ausdruck von hilfloser Professionalität aus, in der Verbesserungsromantik nichts mehr verloren hat: Alles ist fachhochschulisch eingeübt, sozialtechnisch überprüft, durchgehend bürokratisiert.
«Lass mich in Ruhe, Welt!»
Man könnte auch sagen: resigniert. Verloren ist die Kraft der Utopie, nun geht es um das kleinere Übel. Und das heisst: Normierung. Kaum von der Fachhochschule mit den nötigen Papieren ausgestattet und behördlich in die realen Problemfelder geschickt, kommt das böse Erwachen: Die Sozialarbeiterin ertappt sich als sozialpädagogisch verkleidete Polizistin. Jedes Gespräch muss protokolliert, jede Massnahme schriftlich begründet, jeder Vorschlag beantragt werden. Prävention lautet das allgegenwärtige Zauberwort, aber die gesellschaftliche Wirklichkeit ist längst schon permanente Notfallstation. Bürokratie als Ordnungsfaktor: Aus Berufssolidarität ist ein verlängerter Arm staatlicher Massregelung geworden. Und stetig lauert das Gesetz und wartet darauf, dass der Sozialarbeiterin ein justiziabler Fehler unterläuft.
Dann, wenige Tage vor der grossen Jahresstatistik, fällt wegen eines Burn-out-Syndroms für unbestimmte Zeit auch noch ein Mitarbeiter aus und hinterlässt ungelöste Fälle und unerledigte Arbeit. Die drei Frauen versinken in einem stetig steigenden Meer von Notizen, Formularen, Termineintragungen und Akten, bereichert durch amtsinterne Konflikte und deren permanente Psychologisierung. Aus dieser absurden Grundsituation hat Zeller eine Sprachpartitur komponiert, in der sich Splitter des Fachjargons zunehmend verselbstständigen, mit persönlichen Ängsten und Sehnsüchten vermischen und zu immer widersinnigeren Sätzen bis hin zur veritablen Kantate verbinden: «O! Jetzt wird es mir aber zu viel! Dann lege ich mich erst mal zu Hause hin und zie he mir die Decke über den Kopf. Und sage: Lass mich in Ruhe, Welt, ich bin nicht da. Das könnte fast eine Kantate von Bach sein. Lass mich in Ruhe, Welt! O wenn dieser Mann noch leben würde, ich würde ihm stante pede eine Aufforderung schicken, uns Sozialarbeitern eine eigene O Kantate zu schreiben!»
Am liebsten würde man gleich alle drei in die Ferien schicken, in eine «Finca in völlig menschenleerer Umgebung».

KASPAR HÄUSER MEER - P.S.

IM SCHRAUBSTOCK

Drei Einzelkämpferinnen versuchen in Felicia Zellers «Kaspar Häuser Meer» die Arbeitsflut im Sozialamt zu bewältigen, gegen den öffentlichen Erfolgsdruck zu bestehen, den drohenden Klagen auszuweichen und dabei auch noch der eigenen Arbeitsmoral zu genügen. Diese systembedingt unbefriedigende, weil unlösbare Situation inszeniert Stephan Roppel in der Winkelwiese als Schweizer Erstaufführung.

Die drei Frauen reden so rasch als ginge es ums nackte Überleben. Die im Raum verteilten hüfthohen Papiertürme zeugen von der Arbeitsüberlastung, stehen aber gleichzeitig auch für das geforderte Fingerspitzengefühl im Umgang mit der filigranen Materie, weil sie jederzeit einzustürzen drohen. Den weissen Türmen im sterilen, weissen Kubus stellen die drei Frauen mit ihren jeweils andersfarbigen Ensembles wie absichtlich Farbkontraste gegenüber, die fast trotzig wirken. Sie sind blass geschminkt und blicken oft starr und leer in den dunklen Zuschauerraum und wirken wie oberflächlich aufgehübschte Maschinen, die schon viel zu lange auf Höchsttouren laufen und mit dem frischen Anstrich kaschieren, dass die Abnützungserscheinungen im Innern bereits existenzbedrohende Ausmasse angenommen haben (Ausstattung: Petra Strass).

Anika (Andrea Schmid) ist die Neue, die von den anderen beiden zwischen herzlich und abschätzig «Häschen» genannt wird. Sie kämpft
wie die anderen beiden mit der Arbeitsüberlastung, deren Folge die Überstunden, ihr gleichzeitig zu handfesten Schwierigkeiten mit der Kindertagesstätte führt, weil sie ihr Kind oft zu spät dort abholt. Sie versucht den unlösbaren Anforderungen entgegenzutreten oder
wahlweise auszuweichen, in dem sie sich an Paragraphen, Instanzenwege und Vorschriften klammert. Das hilft ihr aber nicht darüber hinweg, dass sie als allein erziehende Mutter bald selbst in den Fokus des Sozialamtes gerät. Barbara (Viviane Mösli) gibt die abgeklärte
Alte, die nach zwanzig Jahren im Amt schon alles gesehen und durchlebt zu haben scheint und Anikas laute Klagen über ihre Situation
als alleinerziehende Mutter mit der zischenden Bemerkung abklemmt: «Ich habe fünf Kinder gross gezogen - und habe ich immer darüber
lamentiert?» Wenn sie kleine Fluchten antritt, nimmt sie Ferienprospekte zur Hand, die mit Urlaub in menschenleeren Gegenden werben, wo sie sich in ihren Tagträumen bereits lustwandeln sieht - fern von allem. Lautstark gibt sie ihren Stolz kund, dass trotz mehrfacher
Prophezeihung es nicht sie als erstes wegen einem Burn-out flachgelegt hat, sondern den Kollegen Björn, dessen Fälle nun auf die drei noch verbleibenden Frauen verteilt werden, was der eigentliche Grund dafür ist, dass die Überlastung der drei an die Oberfläche tritt.

Auch Silvia (Franziska Dick) strotzt vor Berufsstolz, wenngleich sie keine derart glatte Fassade präsentieren kann wie ihre Kollegin Barbara, sondern viel leichter aus der Fassung gerät, etwa als sie ihre Fallnotizen grad nicht mehr findet und sich davor fürchtet ohne diese Zettelsammlung bei allfälligen Klagen über keine Handhabe mehr zu verfügen, ihre Rechtschaffenheit zu beweisen. Sie lenkt sich mit Patience am Computer ab und flüchtet sich darüber hinaus in die wohlige Rauschwirkung von Alkohol, würde ab und an gerne alles hinschmeissen, wenn sie nur wüsste wohin. Anhand dieser drei unterschiedlichen Damen verknüpft die Autorin Felicia Zeller das private Innenleben mit der Arbeitssituation auf dem Amt zwischen Kollegialität und Konkurrenz. Die Fälle von beratungsresistenten bis renitenten Klientlnnnen kommen als schnippisch formulierte und mit Vorwürfen gewürzte Erinnerungen vor, zeichnen akute Situationen nach, die auszuufern drohen und stellenweise absurde Ausmasse annehmen. Innerhalb dieser durch den Abend gestreuten Erzählungen verändern die Schauspielerinnen immer wieder Stimmlage und Tonfall, wenn sie von den verbal und oder intellektuell unvermögenden Reaktionen der Klientinnen im Originalton sprechen. Aber auch Kolleginnen und entscheidungsmüde Vorgesetzte werden durchgenommen. Vor den Fällen, die Björn ihnen wegen seiner krankheitsbedingten Abwesenheit hinterlassen hat, haben sie vornehmlich Angst. Angst sie überhaupt anzufassen, weil keine geregelte offizielle Übergabe stattfand, aber auch Angst davor, dass sie letztlich den Kopf nicht mehr aus der Schlinge bekommen, sollte Björn seine Akten nicht sauber geführt haben und sie aus diesem Unwissen heraus Fehler begingen, zu spät intervenierten. Und natürlich auch vor der nochmals wachsenden Menge an Fällen, für die sie die Verantwortung zusätzlich tragen sollen, wo sie doch bereits bei ihrem Pensum letztlich vom Wust der Arbeit erdrückt werden. Die Kombination von diesem immensen Druck bestehen zu wollen, der offensichtlichen Unmöglichkeit dies in der Tat auch zu schaffen und den von überall her lauernden und jederzeit eintreffen könnenden
Hiobsbotschaften, lassen die Frauen aus reiner Verzweiflung über ihre Situation lachen und dabei der reinen Hysterie immer näher kommen. Einmal versammeln sich die drei und erträumen sich mit geschlossenen Augen in einer Art Chörli eine paradiesische Landschaft, in der sämtliche Pläne reibungslos funktionieren und tückische Fallgruben elegant umgangen werden können. Wie sehr diese theatrale Form der deutschen Realität für die Schweiz in der Tendenz noch überhöhter ist, als bereits gegenüber dem recherchierten realen Vorbild der Autorin, ist schwierig einzuschätzen, die Grundzüge der Problematik dürften sich je
doch ähneln. Die zwischenmenschlichen Mechanismen in grossen Apparaten mit der dauernden Herausforderung sich irgendwann
irgendwie loszustrampeln und dabei innerlich genau zu wissen wie ausweglos diese Sehnsucht nach dem endlichen Ruhemoment ist,
dürfte eher universellen Charakter haben. Im konkreten Fall der Sozialhilfe kommen aber die grundsätzlichen Schwierigkeiten im Umgang mit den Klientinnen, die latente Angst vor strafrechtlicher Belangung und nicht zu letzt die mediale Beobachtung sämtlicher
Schritte und genüssliche Ausschlachtung jeglicher Fehler hinzu, was letztlich noch nicht einmal mit übermenschlichem Einsatz bewältigt
werden kann und den Nervenzusammenbruch gefährlich Nahe in die Realität rückt. Inhaltlich wie formal herausragend.

Thierry Frochaux, P.S., 04. Februar 2010

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KASPAR HÄUSER MEER - TAGESANZEIGER

ALLE ÜBERFORDERT - FELICIA ZELLERS SOZIALSTÜCK

Zürich, Theater an der Winkelwiese. -
Papier auf Papier auf Papier: Vier hohe Aktenstapel stehen auf der steril weissen Bühne wie Eistürme. Um sie herum schiebt der Regisseur, Winkelwiese Leiter Stephan Roppel, die drei Sozialarbeiterinnen aus Felicia Zellers chorischem Stück «Kaspar Häuser Meer», das 2008 an den Mülheimer Theatertagen mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.

Der Preis war wohlverdient. Das Dreipersonenstück erzählt in harten Cuts von den harten Schlägen, die das Leben austeilt und die auch die staatlich angestellten Heilsarmisten - die Sozialarbeiter auf den Ämtern - nicht parieren können. Felicia Zeller, 1970 in Stuttgart geboren, mittlerweile aber eine Kennerin der sozialen Brennpunkte in Berlin und der bundesdeutschen Bürokratie, hat recherchiert wie eine Journalistin und arrangiert wie eine Poetin.

Sie mischt Fragmente aus den Opfergeschichten verwahrloste Kinder, verzweifelte Mütter, versoffene Väter - mit Fragmenten aus der Jeremiade der Sozialarbeiterinnen Silvia (Franziska Dick), Babs (Vivianne Mösli) und Anika (Andrea Schmid). Eingreifen oder beobachten? Mit dieser Frage sind die drei täglich konfrontiert, und immer ist ihre Antwort falsch.

Die Bühnen- und Kostümbilderin Petra Strass hat die selbsternannten Messiasgestalten in Rot, Grün und Blau ausstaffiert - als Spielfiguren auf einem Malefiz Brett mit lauter Stolpersteinen; die Farben unterscheiden sich, die Erschöpfung ist austauschbar. «Ich halte den Einsatz einer sozialpädagogischen Familienhilfe für dringend erforderlich, da Frau Schmidt mit der Organisation des Haushaltes sowie der Versorgung des kleinen Elias MIR KOMMT KEINER INS HAUS überfordert ist», klagt etwa Silvia.

Überforderung ist das Schlüsselwort: Überfordert sind die jeweiligen Eltern, überfordert sind die Sozialarbeiterinnen, überfordert sind hier leider auch die Schauspielerinnen. Sie müssen in ihren persönlichen Kehrreim der Plackerei noch die Stimmen ihrer «Klienten» hineincollagieren. Da verrutscht ihnen nicht selten der Sound. Und Stephan Roppel hat für Zellers gesellschaftskritische, eiskalte Fuge der Vergeblichkeit eine klare, schlichte, aber den Schauspielern enorm viel abverlangende Inszenierung entworfen. Zu viel.

Alexandra Kedves, Tagesanzeiger, 01. Februar 2010

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Züritipp

Kaspar Häuser Meer / Bühne Aktuell
Im Laufradvon
Isabel Hemmel
Züritipp 27. Januar 2010


Von drei überforderten Jugendarbeiterinnen handelt das schlaue und erfolgreiche Stück von Felicia Zeller. Stephan Roppel inszeniert die Schweizer Erstaufführung.

Eine junge Mutter steckt ihrem halbjährigen Sohn eine unangezündete Zigarette in den Mund, macht ein Foto und stellt es auf Facebook. Ein User erstattet Anzeige wegen «Vernachlässigung der Aufsichtspflicht». Ein Mitarbeiter des Jugendamtes muss sich darum kümmern, findet keinen Hinweis, geht unverrichteter Dinge zurück - wohl ins Büro, um Berichte zu schreiben. Auf Facebook schimpft die aufgebrachte Mutter vor sich hin.

Von solchen oder ernsteren Fällen können die Protagonistinnen aus Felicia Zellers «Kaspar Häuser Meer» ein verzweifeltes Lied singen. Barbara, Silvia und Anika sind Sozialarbeiterinnen. Ihrem arbeitsreichen Alltag begegnen sie vor allem mit Reden. Und seit Kollege Björn sie aufgrund eines Burnout-Syndroms auf seiner Arbeit hat sitzen lassen, geht nichts mehr. Wie Hamster im Laufrad rennen sie einer absurden Anzahl Fälle hinterher. Da hilft nur noch mehr arbeiten, mehr reden, Alkohol oder Weltfluchtfantasie. Aber am Ende ist da ein totes Kind, das man hätte retten müssen, wenn man gekonnt hätte, wenn man Zeit gehabt hätte.

«Kaspar Häuser Meer» entstand als Auftrags-arbeit des Theaters Freiburg zum Thema Kindsmissbrauch. Die Autorin näherte sich ihm aus der Perspektive überforderter Sozialarbeiterinnen und umschiffte damit gekonnt die Gefahren des Sozialkitsches. «Kaspar Häuser Meer» ist ein musikalisches Stück, sprachgewaltig und ausgeklügelt, mit einem satirischen Potenzial, das auf der Bühne weit besser zur Geltung kommt als bei der Lektüre und schon mehrfach ausgezeichnet wurde.

Regisseur Stephan Roppel stellt Barbara (Vivianne Mösli), Silvia (Franziska Dick) und Anika (Andrea Schmid) hinter Stapel von Papierkartons, die wie Rednerpulte emporragen. Von da aus hetzen die drei durch unvollständige Gedankengänge wie durch ihren Tag. Sie reden schneller, als sie denken können, während sich unter ihre Worte die Stimmen ihrer «Fälle» mischen: «Den letzten Termin hat sie wieder mal TOTAL VERPENNT EY DAS TUT MIR JETZT ECHT EY LEID EY ABER das war vor vier Wochen! Die Wohnung von der, das ist das Allerletzte ICH WEISS EY ABER und jetzt auch noch die Jahresstatistik!…»

«Kaspar Häuser Meer» erzählt viel von der Überhitzung und dem Hyperaktivismus, die in der Arbeitswelt vorherrschen. «Das Stück passt ausgezeichnet nach Zürich», findet Roppel, «in eine Stadt, in der die einen wahnsinnig viel arbeiten und die anderen keine Arbeit mehr haben.»

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