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STOL - DER TISCH

STOL - DER TISCH, BERNER ZEITUNG

DIE WIEDERGEBURT EINES NARREN

Poetisch-surreale Bilder und grosse Emotionen: Im Stück «Stol» des russischen Theatr Pokoleniy wird eine unerwartete Zeitreise unternommen. Zu sehen im Berner Schlachthaus.

Es ist wie eine Mischung zwischen «Alice im Wunderland» und «A Christmas Carol», der Weihnachtserzählung von Charles Dickens, in der ein grantiger Geizhals von drei Geschwistern heimgesucht wird, die ihm helfen, sein Leben zu ändern. In der Inszenierung «Stol» (übersetzt «Der Tisch») des russischen Teatr Pokoleniy aus St. Petersburg wird der Protagonist Ivan ( Vladimir Postnikov) am Silvesterabend auf eine seltsame Reise in seine Vergangenheit geschickt.

Links gehen, rechts gehen

Die strenge Mutter (Elena Polyakova) bringt Ivan Lesen bei, der autoritäre Vater ( Sergey Mardarh) hält eine Marschparade zu seinem zehnten Geburtstag ab, der geldgierige Bruder ( Stepan Beketov) verzeiht ihm nicht, dass er eine Affäre mit Zoe ( Natalhya Ponomareva) hat, und seine Frau ( Oksana Rysinskaya) wünscht sich insgeheim ein Kind.
Wie ein Leitmotiv zieht sich der russische Orakelspruch: «Gehst du nach rechts - verlierst du dein Pferd/ Gehst du nach links - verlierst du dein Schwert/Gehst du geradeaus - verlierst du dein Leben» durch das Stück. Es soll Ivan, einen modernen Narren, zu Entscheidungen zwingen. Doch wie will man sich für links oder rechts entscheiden, wenn das ganze Leben auf dem Kopf steht und man plötzlich eine Neujahrsansprache am Kreml hört, wo links und rechts noch eine ganz andere Bedeutung haben?

Tisch im Mittelpunkt

Die Inszenierung von Danila Korogodsky und Eberhard Köhler überzeugt durch poetische Bilder, surreale Stimmungen und durch das grossartige Ensemble. Selten sieht man auf der Bühne solche Schauspieler, die ohne Unterkühlung, ohne jegliche Distanz zur Rolle und dafür mit derart grossen Emotionen und mit Engagement ihre Rolle verkörpern- und die dabei so spannend sind. Als Publikum schliesst man die Figuren sofort ins Herz, und es wird schnell klar, dass die Sprache einen lächerlich kleinen Teil der Kommunikation zwischen Zuschauerraum und Bühne ausmacht und die deutschen Übertitel zum Teil auch ignoriert werden können.
Bei der ganzen Geschichte bleibt der Tisch im Mittelpunkt des Geschehens und wechselt seine Bedeutung und seine Funktionen auf der Bühne: Er wird zum Sarg oder zur Ganzkörpermaske. Doch meistens ist er der Familientisch, an dem gestritten, gesungen oder Wodka getrunken wird und wo am Ende eine Wiedergeburt von Ivan möglich wird.

Magdalena Nadolska, Berner Zeitung, 10.Dez.2010

STOL - DER TISCH, DER BUND

DER TUMBE TOR SCHWITZT SICH DURCH SEIN LEBEN

Schöne neue Welt des Kapitalismus: Das Theater Pokoleniy aus St. Petersburg zeigt «Stol - Der Tisch» im Berner Schlachthaus.

Da sitzt er in der Falle. Und die, die ihn lieben, sorgen dafür, dass Ivan nicht mehr rausfindet. Sie begraben ihn auch, der Sargdeckel schlägt zu. Weil Ivans Handy noch funktioniert, taucht er wieder auf, und alle wollen wieder was von ihm. Den Besitzansprüchen begegnet Ivan mit viel Zuneigung: «Jeden von euch liebe ich auf meine Art.» Über den Vater schüttet er Hass aus, 33 Jahre Treue gehen an die Geliebte, die Ehefrau macht er glücklich, weil er beim Einkaufen die Milch nie vergisst, und dem Bruder und der Mutter lässt er ihre Laster nicht durch. Der einzige Halt, der Ivan bleibt, ist der Tisch, unter dem er einst zur Welt gekommen ist. Ein heimtückisches Ding, dem trotz seiner sechs Beine die Standfestigkeit längst abhandengekommen ist.
Das Theater Pokoleniy aus St. Petersburg hat Ivan, den tumben Tor aus den russischen Märchen, in die schöne neue Welt des Postkommunismus katapultiert. Ein fiebriger Albtraum - aus ihm zu erwachen ist allerdings der noch grössere Horror. Ivan, Jahrgang 74, hat die Sowjetunion in den Knochen und den Neokapitalismus in der Nase, was für hoffnungslose Konfusion sorgt. Ganz besonders am letzten Tag im Jahr, der auch Ivans Geburtstag ist. Da bleibt er im Loop der Erinnerungen hängen; statt der gewünschten Cowboys marschieren die Rotgardisten auf, und die Geliebte schlägt ihm den Futurismus um die Ohren. Noch einmal schwitzt sich Ivan durch sein Leben, sekundiert von seiner Familie, die ihn mal wie Comicfiguren, mal wie Chimären sekundiert.
Als surrealen Reigen ziehen Danila Korogodsky und Eberhard Köhler ( Idee und Regie) den Silvesterspuk auf, in dem sich die Grosswetterlage des heutigen Russlands spiegelt: ein Kontinent der Widersprüche. Unterlegt ist das ebenso fulminante wie präzise Spiel des Schauspielerteams mit einem Soundtrack der Sehnsucht, zu dem neben französischen Chansons und Filmmusik auch die russischen Dialoge gehören ( deutsche Untertitel). Ein Soundtrack, der zum Kompass wird, der Ivan einen Pfad vorbei an den Wegweisern zeigt, die ihm die alte Hexe Babajaga ausgesteckt hat: «Gehst du nach rechts, verlierst du dein Pferd, gehst du nach links, verlierst du dein Schwert, gehst du geradeaus, verlierst du dein Leben.»

Brigitta Niederhäuser, Der Bund, 10. Dezember 2010

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