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VON DEN BEINEN ZU KURZ

SCHREIBEN AUS EMPÖRUNG

Katja Baigger, NZZ, 26.1.2012

Die Jungautorin Katja Brunner über ihr erstes Theaterstück, «Von den Beinen zu kurz»

In ihrem Theaterdebüt «Von den Beinen zu kurz» umkreist die 20-jährige Zürcherin Katja Brunner das Thema des Missbrauchs in der Kleinfamilie auf mutige Art. Es gibt weder Täter noch Opfer. Zudem steht sie als Performerin selbst auf der Bühne.

Sie erregt Aufsehen, wie sie da so unerschrocken mit ihren dunkelroten Locken ins «Kafi für Dich» an der Zürcher Stauffacherstrasse schreitet. An den Händen trägt sie silberne Ringe, zum lindengrünen Kleid einen lila Blazer, darüber eine Jacke mit Leopardenmuster. Mutig ist auch Katja Brunners Debüt «Von den Beinen zu kurz», das im März an der «Winkelwiese» uraufgeführt wird. In diesem Theaterstück über Missbrauch gibt es weder Täter noch Opfer, weder gut noch böse, vielmehr stellt es den Versuch eines neuen Blickwinkels auf die Thematik dar.

Wegrennen unmöglich

Die Vorlage ist ein schonungsloses Zeugnis über das stetig wiederkehrende sexuelle Misshandeln eines kleinen Mädchens durch dessen Vater. Die Autorin bezieht in dem verstörenden Text nicht Position, sondern lässt jede Figur ihre Perspektive schildern. Auf diese Weise entsteht Vielstimmigkeit. Bald wird eine Position eingenommen, aus der über das Geschehene reflektiert wird, bald wird unmittelbar wiedergegeben, was abläuft. So erfährt man etwa, dass die Mutter in dem missbrauchten Kind eine Konkurrentin sieht oder dass sich das Mädchen in den Vater verliebt. Eine Lösung oder einen Zufluchtsort gibt es nicht in dieser atemlosen Aneinanderreihung von Sätzen ohne Interpunktion: Die Beine des Mädchens sind zu kurz, um wegzurennen: «(...) Rache ist wie Wegrennen, da hat man die Beine nicht dazu die wachsen einem auch nicht (...). Die sind zum Wegrennen zu kurz gewachsen ohnehin Stummelchen sind das (...).»
Brunners Stück hinterfragt gleichzeitig kritisch das in manchen Dramen und in den Medien unreflektierte Opfer-Täter-Schema. Inszeniert wird «Von den Beinen zu kurz» im März von der Regisseurin Antje Thoms an der «Winkelwiese». Katja Brunner sieht sich nur als «Materialgeberin», die Regisseurin solle selbst Position beziehen, meint sie. «Das Stück ist extra lang, damit es weh tut beim Streichen.»
«Mein Antrieb, Texte zu verfassen, ist die Empörung», sagt die 20-jährige Zürcherin, die über ihre vielen Theaterbesuche zum Schreiben kam. In diesem Fall war es die Empörung über das Ausnützen von Machtverhältnissen und jene über Vertrauensmissbräuche: «Das gibt es dauernd», sagt die selbstbewusste Frau. Sie interessierte der Extremfall dieser Thematik, und der lasse sich anhand eines familiären Dreiecksverhältnisses am besten zeigen. Im Rahmen der Autorenförderwerkstatt Dramenprozessor an der «Winkelwiese», bei der sie erste Arbeiten eingereicht hatte (die an der AG Theater des Gymnasiums Rämibühl entstanden waren) – und von der sie aufgenommen wurde –, las sie Theaterstücke zum Thema, «schlechte Ratgeberliteratur» und Erfahrungsberichte Betroffener, die ihr Psychiater gaben. Inspirationsquellen sind neben vielen anderen etwa die Nachwuchsautorin Gerhild Steinbuch oder Elfriede Jelinek: «Sie ist meine Heldin», sagt Brunner, die mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück fertigstellte. Dazu zog sie sich zehn Tage in ein Haus im Tessin zurück. Der Zustand des Schreibens sei mit frischem Verliebtsein vergleichbar. Dabei vernachlässige man soziale Kontakte. Doch sie könne nicht ohne das Schreiben sein, wenn sie bisweilen die Auseinandersetzung mit abgründigen Dingen auch als eine Tortur empfinde. Inzwischen ist Katja Brunner 20 Jahre alt, für ihr Stück wurde mit dem von Heiner Müller gegründeten Henschel-Schauspiel-Theaterverlag in Berlin ein Publikationsort gefunden, und sie blickt hoffnungsfroh in die Zukunft: «Das gesprochene Wort interessiert mich. Ich will wissen, was man damit alles machen kann.» Das erkundet sie bereits, mit Hörspielen wie «Ändere den Aggregatszustand deiner Trauer» oder Performances, in welchen sie einen ironischen Blick auf die Liebe wirft, die Tragik der Festlegung des Geschlechts von Hermaphroditen beschreibt oder Bezug nimmt auf den arabischen Frühling und die Schweizer Angst vor Flüchtlingswellen aus Nordafrika.
Damit nicht genug: Sie steht auch gerne selbst auf der Bühne. Dies etwa bei Projekten von Salome Schneebeli wie «Ich dich auch» in der Gessnerallee, bei denen sie zudem dramaturgisch mitarbeitet. «Ich möchte später gerne eine theaterpraktische Ausbildung machen», sagt die junge Frau, die in Bern literarisches Schreiben studiert. Bald wird sie für ein Austauschsemester an die Universität der Künste in Berlin gehen. Ihre Mentorin während des Studiums ist die Schriftstellerin Ruth Schweikert: «Eine glückliche Fügung», meint Brunner.

Sprache als Material

Ihre Empörung gilt auch sich selbst und ihren Altersgenossen; die Menschen nähmen sich selbst so wichtig. Das meint Brunner nicht als Vorwurf, sie sieht es als eine logische Folge. «Uns wurde vorgeführt, dass Revolutionen zum Scheitern verdammt sind. Wir schauen dem Kapitalismus beim Dahinsiechen zu. Utopien sind vorbei. So gehen wir halt für Partys auf die Strasse, was eine Pervertierung des Einstehens für Rechte ist.»
Dabei ringt Brunner, die am Literargymnasium Rämibühl die Matura gemacht hat, in jugendlichem Elan auch mit ihrer Herkunftsstadt. Zürich samt Zürichberg und Goldküste sei «schwierig»: «Wir haben so viele Privilegien und so wenig Idealismus.» Dem könne das Theater etwas entgegensetzen, findet Brunner. Da stünden Menschen auf Bühnen, die Anliegen hätten und dafür leiblich einstünden. Natürlich spreche sie auch gerne über sich selbst. Ja, ein bisschen narzisstisch sei sie wohl schon. Jetzt wirkt die junge Frau, die heute im Kreis 4 wohnt, beinahe verletzlich: «Mich interessiert Sprache als Material, als Akteurin», erklärt sie. «Sprache wird von meinen Figuren dazu benutzt, sich von der Resignation wegzureden. Sprache stellt für sie die letzte –vermeintliche – Rettung dar. Das Tragische ist, dass sie meist doch nicht verstanden werden.»

Die Frühlingsspielzeit an der «Winkelwiese»

Die Frühlingsspielzeit am Theater an der Winkelwiese kreist unter dem Motto «Spuren» um biografische Erfahrungen und wie diese sich auf das Zusammenleben auswirken. Hierzu gehört Katja Brunners Stück, das am 31. März uraufgeführt wird. Zuvor findet am 23. März eine dem Künstler Martin Kippenberger gewidmete Late Night statt, Titel «Katja Brunner und Freunde. Ein Tumult oder – Gulasch.» Derzeit läuft Stephan Roppels Inszenierung von Dennis Kellys «Waisen» (NZZ 23.1.12). Ab 1. März folgt Jens Nielsens Solostück «Niagara – ein Mann fährt auf Hochzeitsreise». Vom 14. März an gastiert «Fremde Signale» nach dem Roman von Katharina Faber in Zürich. Sowohl Beatrice Fleischlin, deren Stück «Mein törichter Beweis von Leidenschaft» am 26. April Premiere feiert, als auch Sebastian Krähenbühls «Die Bedürfnisse von Pflanzen» (ab 25. Mai) setzen sich mit Familiengeschichte auseinander. Politisch wird die Gastinszenierung «Störfall – Nahaufnahme Tschernobyl», Premiere ist am 16. Mai. Schliesslich thematisiert die Nachwuchsautorin Ivna Zic in «Die Vorläufigen» die Vereinzelung moderner Stadtmenschen (ab 13. Juni).

Porträt Katja Brunner, NZZ 26.1.2012 1.PDF | 358 KBytes

TEUFELSKREIS DER KLEINFAMILIE

Katja Baigger, NZZ, 2.4.2012

«Winkelwiese»: Uraufführung von «Von den Beinen zu kurz»

Das Theaterdebüt «Von den Beinen zu kurz» der Jungautorin Katja Brunner, das im Rahmen der Autorenförderwerkstatt «Dramenprozessor» an der «Winkelwiese» entstand und am Samstag ebendort uraufgeführt wurde, ist schwere Kost. Da missbraucht ein Vater seine Tochter – ein Mädchen im Kindergartenalter. Da gibt sich eine Tochter dem Vater hin; für sie, die nichts anderes als die Perversion kennt, ist der Täter eine Lichtgestalt. Da schaut eine Mutter zu, weil sie den Vater liebt und die «Familienidylle» nicht zerstören möchte. Und da ist der Blick von aussen, von den Juristen, Psychologen, Ärzten und Journalisten, die voyeuristisch dieses Familiendreieck auf den Seziertisch hieven. Assoziationen zum medialen Umgang mit Natascha Kampusch sind beabsichtigt. Der 21-jährigen Autorin gelingt es, die Problematik des Missbrauchs zu beschreiben ohne moralisch zu urteilen (NZZ 26.1.12). Das ist die Stärke an dem Stück. Verschiedene Perspektiven werden durchgespielt, anhand von märchenhaften Einschüben wird die Harmonie zwischen Königin, Prinzessin und König scheinbar wiederhergestellt.
Regisseurin Antje Thoms verteilt den mehrstimmigen Monolog auf vier Darstellerinnen (Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt, Marie-Isabel Walke), die alle hellblaue Oberteile, dunkelblaue Hosen und farbige Haargummis tragen (Kostüme: Simone Hofmann), eine Reminiszenz an das Mädchen. Doch beraubt Thoms nicht gerade mit der Besetzung durch Frauen sowie der Uniformität der Kleidung die Multiperspektivität ihrer Wirkung? Man hätte durchaus einen Mann mitspielen lassen können, statt dass die Schauspielerinnen für gewisse Passagen männliche Verhaltensweisen annehmen. Das leuchtorange Holzbank-Quadrat auf der Bühne, das den Teufelskreis, in dem diese Familie steckt, symbolisiert (Romy Springsguth), dient als Sandkasten oder Gehege im Streichelzoo. Darin liegen Äpfel, als Symbol der verlorenen Unschuld oder einer verbotenen Frucht beziehungsweise Lust, denn für die Vaterfigur – und tragischerweise für das Kind, welches den Missbrauch verinnerlicht hat – sind Pädophilie und Inzest verbotene Lüste. Diese Äpfel werden der Tochter in der Arztbesuch Szene in die Hosen und in den Mund gestopft. Das an sich eindrückliche Bild scheint an dieser Stelle falsch placiert. Ausgerechnet beim Arzt wird die Qual, welche das Mädchen auszuhalten hat, versinnbildlicht. Dabei möchte der Doktor dem Kind helfen, weil er merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist; ein Zwiegespräch zwischen ihm und dem Kind blockt die Mutter ab. Wenn auch die Inszenierung bisweilen irritiert, so gibt es doch starke Szenen, etwa jene, in welcher die Mutter den Vater und das Kind gemeinsam im Bett liegend ertappt.

Kritik NZZ, Katja Baigger, 2.4.2012 4.PDF | 139 KBytes

WENN VÄTER ZU SEHR LIEBEN - EIN STÜCK ÜBER MISSBRAUCH

Alexandra Kedves, 2.4.2012

Meisterhaft rund um die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft mäandern, die «Inzest Monster» wie Josef Fritzl hervorbringt das-leistete gerade Elfriede Jelineks «Faustin and out» am Schauspielhaus. Da ist es heikel, im benachbarten kleinen Theater an der Winkelwiese «Von den Beinen zu kurz» zur Uraufführung zu bringen. Die 1991 in Zürich geborene Katja Brunner, die noch im Studium «Literarisches Schreiben» steckt, übersetzt ebenfalls eine Missbrauchsgeschichte in einen Mädchenchor.

Fast geschlechtslos, in neutrales Blau und Schlabberkleider gepackt – unter denen ab und an Lolita-T-Shirts hervorblitzen, erzählen Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt und Marie-Isabel Walke als Töchter spielfreudig von den Stationen ihrer Liebe. Liebe? Liebe! – behaupten sie, sei der Inzest mit dem Vater gewesen; und das ist die Irritation, um die Brunners Abend kreist. Im engen Holzgerüst eines multifunktionalen Sandkastens schaufeln die jungen Frauen nach ihren Kindheits-erinnerungen, verwechseln dabei Täter und Opfer missverstehen sich als verfolgtes Paar, als Romeo und Julia, so wie es ihnen ihr Vater einst souffliert hat. Da ist alles aus den Fugen: Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Familienkonstellation.

Urteil oder Vorurteil? Für diese alten Kinder sind die Grenzen längst verwischt; wie sie sich mit Lügen übers Leid hinwegtrösten, entlarvt die Autorin in ihrem Dramenprozessor-Projekt scharfsichtig, aber etwas etüdenhaft. Die stringente Inszenierung von Antje Thoms legt auch bloss, dass es da (noch) an der Tiefe fehlt, die aus einem Themenstück Theater macht.

Kritik TA, Alexandra Kedves, 2.4.2012 4.VDBZK.PDF | 116 KBytes

KINDSMISSBRAUCH INS LICHT GERÜCKT

Karl Wüst, SFD, 2.4.2012

In ihrem Stück «Von den Beinen zu kurz» protokolliert Katja Brunner einen Fall von Kindsmissbrauch in der Familie. Ein beklemmender Text
in der Uraufführung an der Zürcher Winkelwiese.

Der Vater ist tot, hat sich von einem Turm herab zu Tode gestürzt. «Also er ist – er war da einfach – eine Lichtgestalt – immer schon – eine Respektsperson – er hatte diese Aura der Liebe und der Sicherheit», sagt seine Tochter an der Abdankung. Sie sagt das voller Trauer, zündet eine Gedenkkerze an und geht ab. Erstaunliche Worte für ein Kind, das jahrelang von seinem Vater missbraucht worden ist? Nein. Das macht die 21-jährige Zürcher Autorin Katja Brunner bewusst. Missbrauch hat eine Kehrseite. Im Spiel sind auch Liebe, Zärtlichkeit, Zuneigung und kindlicher Stolz, einen so lustigen Vater zu haben, der tierliebend ist, mit dem Kind lacht, herumtollt und es dabei auch kitzelt. «Von den Beinen zu kurz» rollt diese Geschichte des Missbrauchs aus unterschiedlichen Perspektiven und in atemloser Sprache auf. Katja Brunner gibt die Stimme nicht nur dem Mädchen, sondern auch dem Vater, der Mutter, dem Arzt. Ohne explizit zu verurteilen, zeichnet der beklemmende Text das empörende Bild einer Gesellschaft, die Machtverhältnisse tabuisiert, verharmlost und so den Nährboden legt für Ausbeutung, Unterdrückung – für Kindsmissbrauch.

Ständiger Rollenwechsel

Geschrieben hat Brunner «ein Stück für vier oder fünf Schauspielerinnen oder 13 Männer in Bademänteln». Regisseurin Antje Thoms hat sich für die erste Variante entschieden und schickt die vier exzellenten Schauspielerinnen Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt und Marie-Isabel Walke auf die Bühne. Sie tragen Jeans und hellblaue T-Shirts. Abwechselnd spielen sie das Mädchen und schlüpfen in die anderen Rollen. So macht Thoms jede der Szenen zu einem spannungsvollen, vielschichtigen Ereignis.

Schlichte Bühne

Romy Springsguth hat dafür eine schlichte Bühne gebaut: ein niedriges Laufgitter in Form einer quadratischen, rot gestrichenen Bank. Räumlich geschlossen eignet es sich als Streichelzoo, als Wohnung, als Kirche, als Arztpraxis. Entstanden ist «Von den Beinen zu kurz» 2009/2010 im Rahmen des Dramenprozessors. Das vor zwölf Jahren gegründete Förderprojekt für junge Schweizer Theaterautorinnen und -autoren steht zurzeit unter der Leitung von Stephan Roppel, dem Intendanten des Theaters an der Winkelwiese.

Kritik SFD, Karl Wüst, 2.4.2012 PDF | 275 KBytes

UNERTRÄGLICH FRÖHLICH

Thierry Frochaux, P.S., 5.4.2012

Vier vom Äusseren und im Spiel auf Göre getrimmte, aber allesamt starke Schauspielerinnen teilen sich die Rolle des Mädchens das, mit schrecklich verschobenem Blickwinkel auf die eigene Misshandlung durch den Vater blickt. Der herausragende Text von Katja Brunner «Von den Beinen zu kurz», erfährt durch die Regie von Antje Thoms eine eindringliche und treffliche Uraufführung - wird damit aber umso weniger erträglich

Ungeduldig wippen sie mit den Beinen, rempeln sich kichernd gegenseitig an, schnippen den Arm aufstreckend mit den Fingern, um ja nicht übersehen zu werden, und reden dem Publikum den Kopf mit eilig gehaspeltem Durcheinander regelrecht sturm. Julia Doege, Vivianne Mösli, Julia Schmidt und Marie-Isabel Walke sind in ihren braven blauen Uniformen, wo nur die Söcklein und die manchmal unter dem Pulli hervorlugenden T-Shirts von auf der Haut getragenem farblichem Wagemut zeugen, eine Freundinnentruppe im kindlichen Alter, die jede für sich den bevorstehenden Auftritt kaum erwarten kann: Der Text ist gelernt, die Perspektivenwechsel von erster auf dritte Person genauso verinnerlicht, wie die Wechsel zwischen nacherzählten und szenisch dargestelltem Nachspiel einer grauenhaften Erfahrung, der erneut zu begegnen nur durch komplette Verklärung möglich scheint. Ein Kinderspiel - und Romy Springsguth baut auch gleich eine neonorange Sandkasteneinfassung als Bühnenbild hin - in dem sich die vier Schauspielerinnen genauso aufführen, wie wenn kleine Mädchen spielten. Sie wechseln die Stimmlagen, je nachdem, für wen sie sprechen, agieren mitunter viel kindischer als es ihrem Alter entspricht und changieren zwischem jovialem Lolitablick und trotzig vorgebrachter Altklugheit. Das ist formal dermassen spassig, dass es Antje Thoms damit letztlich kongenial gelingt, die inhaltliche Grausamkeit der schmerzlich punktgenauen Wortwahl von Katja Brunner durch spürbar absichtliches Überspielen des Schmerzes nachgerade zu verdoppeln. Zwischen der Inschutznahme des Vaters, der unerbittlichen Anklage gegenüber der Mutter und den - physisch dargestellten - schmerzlichen Begegnungen mit einem besorgten Mediziner streut die Autorin immer wieder Märchenerzählungen ein, die eine nochmalige Verklärung ins Reich des Phantastischen darstellen und so den körperlich geschundenen Mädchen den Aufbau eines undurchdringlichen Schutzwalls noch weiter erleichtern. Die Inszenierung von Antje Thoms gerät damit zu viel mehr als der reinen Bühnendarstellung des Textes, sondern wird zur regelrecht empathisch nachfühlbaren - in der Gesamtheit der darin innewohnenden Ambivalenz abdeckenden - Forschungsreise in die verborgenen Abgründe hinter dem übermenschlich hohen und unumstösslichen Schutzwall. Letztlich gelingt der Regisseurin damit die brutalstmögliche Konfrontation, denn wenn die Abgründe von Misshandlung mit engelsgleicher Fröhlichkeit überspielt werden, der Text jedoch den ungeschminkten Blick auf die Gräuel freigibt, wird die Ambivalenz, der Schutzmechanismus und dahinter natürlich auch der (natürlich nur im Kopf «nachvollziehbare») unermessliche Schmerz nicht nur erkenn- und durchschaubar, sondern springt einen regelrecht mit verzerrter Fratze und geschliffenen Krallen ungebremst und direkt an. Somit erweist die Regisseurin dem Text, den Katja Brunner während des letzten «Dramenprozessors» geschrieben hat, die bestmögliche Referenz beziehungsweise Umsetzung, unterstreicht dabei aber auch den für psychologisch nicht geschultes Publikum kaum schadlos zu überstehenden Zusammenprall mit einem mehrheitlich immer noch als Tabuthema gehandelten Umstand. Dass Katja Brunner die kindliche Ambivalenz dermassen trefflich in Worte zu fassen weiss, macht die Lage noch vertrackter. Denn ganz gewiss wird mit dieser Herangehensweise an den Text, dass bares Schwarzweissdenken -aus der Perspektive des Kindes -kaum je irgendwohin führt, wo es Verarbeitung, Linderung des psychischen Traumas oder gar im entferntesten so etwas wie «Rettung» geben könnte. Nur die Frage, wer so etwas sehen will, wird damit nicht beantwortet.

Thierry Frochaux, P.S., 5.4.2012 S.BEINE.PDF | 267 KBytes

EIGENWILLIGES DEBÜT

Corina Freudiger, Züritipp, 29.3.2012

Die 21 Jahre junge Katja Brunner hat ein Stück über Inzest geschrieben - und viel Lob geerntet.

Immer mal wieder steigt ein Stern aus dem Theater Winkelwiese empor. Die dortige Textschmiede «Dramenprozessor» ermöglicht Nachwuchsautoren, unter professioneller Anleitung ein Stück zu schreiben und so die Branche auf sich aufmerksam zu machen. Katja Brunner, Jahrgang 1991, ist so ein Stern. Ihr Talent sei ausserordentlich, schwärmt Winkelwiese-Intendant Stephan Roppel, die Verlage polierten der Zürcherin gleich reihenweise die Türklinke, und langsam, aber sicher scheint Brunners Licht auch in die Feuilletons hinein.

Diese Woche nun feiert ihr Debüt «Von den Beinen zu kurz» Premiere. Es ist ein Familiendrama, wortstark geschrieben, mit Sprachbildern, die hängen bleiben. Das Thema: Misshandlung. Die Anordnung: Ein Vater vergeht sich an seiner Tochter, die Mutter schaut zu. Brunner siedelt die Handlung in einem familiären Umfeld an, «weil es daraus scheinbar kein Entrinnen gibt», wie sie sagt. Überraschend ist an diesem Text, dass darin weder Brunner noch ihre Figuren explizit Position beziehen. «Ich wollte auf keinen Fall ein Betroffenheitsstück schreiben, in dem es hier einen Täter und dort ein Opfer gibt.», so die Autorin. «Viel mehr versuchte ich, dem verschobenen Schuldempfinden der Beteiligten nachzuspüren.» So sagt ihre Protagonistin auch mal überzeugt, sie entscheide hier selbstbestimmt, was mit ihr passiere. Was das Stück natürlich nicht weniger erschreckend macht. Zur Uraufführung kommt Brunners Stück nun in der Interpretation von Trainingslager, einer Truppe, die sich mit versponnenen und trashigen Inszenierungen einen Namen gemacht hat. Das freut Katja Brunner: «Es ist gut, wenn jemand diesem schweren Thema mit einer gewissen Leichtigkeit begegnet - und neben all dem Schrecklichen auch ein Auge für die Absurditäten hat, die solche Fälle mit sich bringen.»

Züritipp, Corina Freudiger, 29.3.2012 PDF | 217 KBytes

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