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ZUKUNFT EUROPA

Europas Zukunft frisst der Säbelzahntiger

Christoph Schneider, Tages Anzeiger, 25. April 2015

Das gegenwärtige Europa, vor dessen Küsten jetzt Bootsflüchtlinge ertrinken, weiss nicht, wo ein uns aus zwischen Empathie und Erbarmungslosigkeit, und macht es vielleicht selbst nicht mehr lang. Die Festung steht noch, aber das Selbstbild bröckelt. Die Fragen nach einer Zukunft können in die dunkle Groteske führen, so wie in der szenischen Collage «Zukunft Europa», einer Produktion des Theaters Marie im Theater Winkelwiese. Das sind: fünf sehr kurze Stücke von Ariane Koch und Joël László, worin es mit den Zukünften derart düster und dystopisch und überhaupt nicht zum Lachen aussieht, dass es schon wieder hochkomisch ist. So, wie es sein kann, wenn im Haus des bald Gehängten vom Strick gesprochen wird, sozusagen.
Der Galgenhumor ist erst einmal aus der Gegenwart abgeleitet: aus den globalen Widersprüchen im aktuellen europäischen Gesamtbild, auf die Ariane Koch stiess, als sie auf Fiverr.com Zukunftsstatements bestellte. Fünf Dollar haben die pro Stück gekostet, und da war dann alles dabei, von der Lyrik über eine gewiss fortdauernde Erfolgsgeschichte bis zur Polemik gegen eine kannibalische Primitivkultur. Auf der Basis eines daraus destillierten Primärchaos macht das Projekt «Zukunft Europa» seine fantastischen Bocksprünge.
Also: Es könnte diese Zukunft tod- und echthaarlos sein, so unnatürlich hygienisiert, dass wahre Rebellion im Wunsch bestehen wird, jung und unepiliert von einem Säbelzahntiger gefressen zu werden. Es könnte sich, nach der Sprengung des Isenheimer Altars, einmal das Problem stellen, was von der europäischen Kunst Überlebenswert hat, der Zauber des Rokoko oder die Entzauberungsperformances der Künstlerin Marina Abramovic. Und am Ende, wenn der Alte Kontinent ganz verschütt gegangen ist, wird es wohl zur Frage kommen, ob die letzten Europäer den europäischen Stier am Spiess braten werden.
Das sind nun bloss Andeutungen eines konzentrierten Abends voll Sprachspiel, scharfer Ironie, Klamauk und nicht immer ganz tiefer Bedeutung (Regie: Olivier Keller). Jedenfalls: Alles findet auf einer Plattform statt, worauf drei Akteure mit feinster Textpräzision eine beträchtliche europäische Sauerei anrichten.

Tages Anzeiger Kritik "Zukunft Europa" PDF | 162 KBytes

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