DARJA STOCKER
GESPRÄCH ZWISCHEN DARJA STOCKER UND STEPHAN ROPPEL Stephan Roppel: Warum heisst Dein Stück Nachtblind? Darja Stocker: Da gibt es verschiedene Bedeutungen. Zum einen heisst Leyla Nacht. Und Moe ist farbenblind. Leyla behauptet in einer Szene, er sei auch nachtblind, was er aber dementiert. Zum andern glaube ich, dass die Menschen in diesem Stück zu lange blind sind für Leyla und für das, was in ihr vorgeht. Die Mutter ist auf den Bruder und ihre Eheprobleme fixiert, der Vater kaum anwesend. Bei Moe kann man dieses «Nicht-Sehen» auch positiv werten. In dem er Leylas Schattenseite erstmal nicht erkennt, erhält sie die Chance, sich selbst auf eine andere Weise zu erleben und ihre Identität neu zu definieren. Stephan Roppel: Wogegen revoltiert Leyla? Darja Stocker: Ich weiss nicht, ob es ein Revoltieren ist. Wenn doch, dann ist es nicht dieser bewusste Kampf, den wir uns vorstellen. Die Spannungen zwischen den Generationen sind heute nur unterschwellig sichtbar. Leylas Eltern haben ihrer Tochter Emanzipation und Selbstbestimmung beigebracht. Nun erlebt sie, dass ihre Mutter diese Werte, die Leyla als selbstverständlich ansieht, nicht verteidigt. Sie lässt sich von ihrem Sohn tyrannisieren und von ihrem Mann betrügen, ohne etwas gegen diese Verletzungen zu unternehmen. Dies ist eine grosse Enttäuschung für Leyla, zumal die Mutter dadurch immer mehr an Persönlichkeit verliert. Dass sie so lange mit einem Gleichaltrigen zusammen bleibt, der sie schlägt, kann also auch der Versuch sein, der Mutter (und sich selbst) zu beweisen, dass sie es schafft, eine solch schwierige Beziehung «im Griff» zu haben. Oder sie versucht, die Mutter zu verletzen, indem sie sich selbst Leid zufügt, ihr die Augen zu öffnen – für sich und für die Situation, in der sich die Familie befindet. Stephan Roppel: Dein Stück thematisiert unter anderem auch Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern? Warum? Darja Stocker: Als ich selbst noch in der Schule war, hörte ich ein paar Geschichten, die mich sehr beschäftigten. Ich verstand nicht, warum Kinder, die ohne Gewalt erzogen wurden, selbst Gewalt gegen ihre Eltern und gegen FreundInnen anwendeten. Deshalb begann ich, das Thema zu untersuchen. Das Interessante ist, dass Eltern der neuen Generation sehr hohe Erziehungsideale haben und ihren Kindern die besten Möglichkeiten geben wollen, sich frei zu entwickeln. An diese Ideale sind aber auch grosse Erwartungen an das Kind geknüpft. Wenn man sich schon solche Mühe gibt, möchte man auch etwas zurückbekommen. Oft entstehen dadurch Enttäuschungen, die zu einer tiefen Kluft zwischen Eltern und Kind führen. Leyla ist eine Tussi anstatt eine emanzipierte Frau, ihr Bruder Rico hat Probleme in der Schule und führt sich im Quartier als aggressiver Gangster auf. Das ist nicht das, was sich ihre Eltern gewünscht haben. Ein weiteres Problem ist, dass viele Eltern aus lauter Angst vor einer «Fehlentwicklung» ihren Kindern gar nichts mehr entgegensetzen, kein Gegenüber mehr darstellen, an dem man sich reiben kann. Dies wäre aber sehr wichtig, um seinen eigenen Weg zu finden. Wenn man wie Leylas Mutter ständig seine Reaktionen zurücknimmt, riskiert man zudem, dass einen die Kinder nicht mehr ernst nehmen. Grenzen sind in unserer Generation der vielen Möglichkeiten ein wichtiges Thema und wenn sie nicht auszuloten sind, wenn nicht mal auf der menschlichen Ebene Anhaltspunkte vorhanden sind, kann dies zu einer grossen Verunsicherung führen und bei manchen auch zu Aggression und Gewalt. Ein Psychiater erzählte mir, Kinder gingen dann soweit, bis irgendeine Instanz sie stoppe, oft die Polizei oder die Justiz. Bemerkenswert ist zudem, dass die meisten dieser Eltern selbst autoritär und mit Gewalt erzogen wurden und dadurch ein eher schwaches Selbstbewusstsein besitzen. Ihre selbstbewussten Kinder bräuchten aber dringend genauso selbstbewusste «Partner», mit denen sie Konflikte verhandeln könnten, ohne Gewalt und Strafe. Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern ist also ein wichtiger thematischer Aspekt im Stück: Leyla gerät an einen jungen Mann («der Grosse»), der sowohl sie als auch seine Eltern bedroht. Zuhause leidet sie unter der Situation, dass Ricos massive Grenzübertritte einfach geduldet werden. Ihr Leidensdruck erhöht sich zusätzlich, weil sie ihre Probleme im Gegensatz zu Rico und «dem Grossen» nicht nach aussen trägt. Darum habe ich schlussendlich auch kein Stück über «den Grossen» und Rico geschrieben, die Gewalt gegen ihre Eltern ausüben, sondern habe den Fokus verschoben auf diejenigen, die unter den Konsequenzen dieser Entwicklung leiden. Stephan Roppel: Die Ehesituation der Eltern Leylas ist desolat. Beschreibst Du damit ein bloss individuelles Scheitern oder steht dieses Scheitern in einem grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang? Darja Stocker: Eine gewisse Kommunikations- und Bezugslosigkeit zwischen den einzelnen Familienmitgliedern hat bestimmt mit dem Druck zu tun, seine individuellen Ziele verfolgen und erreichen zu müssen. Kinder und Eltern werden nach Leistung in Schule und Beruf bemessen, der Arbeitsmarkt lässt in den meisten Fällen noch immer kein Familienleben mit Arbeitsteilung zu. Will jeder auf seine Kosten kommen, ist ein Aneinander-vorbeileben manchmal nicht zu verhindern. Wenn unter diesen Umständen Beziehungen scheitern, wundert mich das nicht. Die seelische Verwahrlosung, die in «Nachtblind» ein Thema ist, sähe unter anderen Bedingungen wohl einfach anders aus. Ich glaube nicht, dass es in den vorherigen Generationen «die intakte Familie» gegeben hat. Stephan Roppel: Zürich ist eine reiche Stadt mit hoher Lebensqualität. Welche Bedeutung hat der Wohlstand und das Geld für Deine Figuren und ihre Beziehungen? Darja Stocker: Leyla stammt aus einer Familie der oberen Mittelschicht. Ihr wurde gesagt: «Du kannst alles!» Der Druck, den richtigen Weg zu wählen, ist gross. Umso schwerer fällt es, Entscheidungen zu treffen. Indem Leyla ein schockierendes Geheimnis hat, hebt sie sich von der Masse ab. Der Grosse ist eine Aufgabe, die ihr Leben erfüllt, freiwillig oder unfreiwillig. Als Moe ihr von seinem Traum, Physiker zu werden, erzählt und sie ihn drängt, für diesen Traum zu kämpfen, merkt sie, dass auch er unterdrückt ist. Es gibt jedoch einen bedeutenden Unterschied. Während er in seine Situation hineingeboren wurde, hat Leyla ihre Unterdrückung gewissermassen selbst ausgewählt. Das sind zwei völlig verschiedene Voraussetzungen. Er stammt aus einer Schicht, in der das Verhalten jedes Einzelnen Konsequenzen für die ganze Familie hat, nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern auch auf der wirtschaftlichen. Meiner Meinung nach kettet dies eine Familie im positiven und negativen Sinne viel enger zusammen, weil Individualismus kaum möglich ist. Im extremen Fall gibt es nur das «Wir». Leyla sieht in diesem Abhängigkeitsverhältnis eine Parallele zu sich und dem Grossen und möchte sich gemeinsam mit Moe daraus «befreien». Dass er sich dagegen sträubt, kann sie nicht verstehen. Sie sieht nicht, welche Rolle die Angst um die Existenz bei ihm spielt. Der Wohlstand ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Das Gespräch hat im Januar 2006 stattgefunden und ist zum Spielzeitthema «Tiefenschärfe» im Winkel Nr. 7 erschienen. Anlass war die Uraufführung von Darja Stockers Stück «Nachtblind» im Theater Winkelwiese. «Nachtblind» ist im Dramenprozessor entstanden und gewann den Heidelberger Stückemarkt 2005.
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