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GERHILD STEINBUCH

GESPRÄCH ZWISCHEN GERHILD STEINBUCH UND STEPHAN ROPPEL

Stephan Roppel: Elm hat seine Eltern, Hans und Anna, verlassen. Er spricht bloss noch von seinen Erzeugern. Was
bedeutet dieser Verlust für das Elternpaar?

Gerhild Steinbuch: Für Hans ein gebrochenes Herz, die Liebe
hat ihn verlassen. Für Anna ein willkommener Umstand, sie hat nun keinen Mitstreiter mehr im Kampf um Hans’ Zuneigung, muss nicht länger eifersüchtig sein, darf endlich Familie sein, denkt sie, mit Hans allein.

Stephan Roppel: Auf Milans Aufforderung, nach Hause zu gehen, sagt Hans «Ich fürcht, ich hab vergessen, wo das ist». Anna geht an einer anderen Stelle noch weiter: «Ich glaub ich weiss auch nicht mehr, wie ich heiss.» Sind die beiden bloss wehleidig und egoistisch oder beschreibt das ein wirkliches Verlorensein in der Welt.

Gerhild Steinbuch: Sie sind verloren, hilflos wie Kinder. Aber weil sie keine Kinder sind, macht sie das zu Egoisten.

Stephan Roppel: Die Figuren in Ihrem Stück dringen mit grosser Rücksichtslosigkeit in die Phantasieräume und die Intimsphären der anderen ein. Ich habe den Eindruck, Sie sprechen viel mehr gegeneinander als miteinander. Ist es Ihrer Meinung nach eine unerreichbare Utopie, dass Menschen sich über Sprache überhaupt verstehen können?

Gerhild Steinbuch: Man müsste vielleicht zur Verständigung mit einem andren eine Einheitssprache finden, die aber klar ist, so wie Musik, die direkt ist und ankommt. Ich weiss nicht, ob das möglich ist. Die Figuren in meinem Stück sprechen zwar ähnlich, aber ihre Sprache ist nicht klar, sie mäandert um ihre Komplexe, wächst am Egoismus, um sich dann dahinter zu verstecken. Manchmal prescht sie ohne Vorwarnung dem andren entgegen, sodass dieser in Deckung gehn muss, um nicht tot umzufalln. Verstehen kann man sich so nicht.

Stephan Roppel: Elm hält sich bei Milan auf, nachdem er seine
Eltern verlassen hat. Ich beschreibe das bewusst so neutral, vielleicht tut man ihrem Stück ja unrecht, wenn man es auf eine Missbrauchsgeschichte reduziert. Vor dem Fenster sitzt Nele. Sie erzählt Elm vom Wald als Ort der Sehnsucht und der Utopie. Damit treibt sie einen Keil in die «Beziehung» zwischen Milan und Elm. Wie ist das Verhältnis der fiktiven, ausgedachten Welt zur real existierenden in ihrem Stück?

Gerhild Steinbuch: Die fiktive Welt ist Lebensrettungsphantasie,
ist das, wohin sich die Figuren flüchten, weil sie in der echten Welt nicht klappen. Alle, ausser Elm, den Nele in ihre Phantasie zu locken versucht, weg von Milan, den sie begehrt. Was zwischen Milan und Elm passiert ist übergriffig, klar, aber alle Beziehungen im Stück sind übergriffig, die Figuren missachten Grenzen, dringen rücksichtslos ein.

Stephan Roppel: Damit entwerfen Sie ein illusionsloses Bild
menschlichen Verhaltens und menschlicher Kommunikation. Gibt es in ihrem Stück auch eine Widerstandskraft gegen den omnipräsenten Egoismus der Figuren? Verkörpert Elm eine solche Widerstandkraft? Ist die Sehnsuchtswelt des Waldes ein Ort der inneren Auflehnung?

Gerhild Steinbuch: Elm hebt sich von den anderen ab. Er hat
keine eigene Lebensrettungsphantasie und: Er möchte auch keine haben. Besser so, als ein Idiot sein, wie die andren. Aber er weiss nicht, was dieses «so» sein soll, für ihn. Deswegen verstrickt er sich in die Phantasien der andren.

Stephan Roppel: Elm und Nele sind sich in ihrer Auflehnung
gegen die Welt verwandt. Sie grenzen sich ab gegen die «Idioten mit ihren blöden Lebensrettungsphantasien» (Elm) und gegen die «Idioten, die alles zukleistern mit ihren Bildern von der Welt, bis man nichts mehr so sehen kann, wie es wirklich ist.» (Nele). Was hindert sie daran, ihre gemeinsame Sehnsucht auszuleben und einen gemeinsamen Aufbruch zu wagen? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Glück, das länger als drei Sekunden dauert?

Gerhild Steinbuch: Neles Auflehnung ist nicht echt. Nele ist wie
die andren Figuren, sie hat eine Lebensrettungsphantasie, hat einen Besitzanspruch (an Milan), Elm nicht. Das macht die gemeinsame Flucht, das gemeinsame Glück unmöglich. Das Glück im Stück dauert nie lang, weil die Figuren, wenn sie Zuneigung endlich einmal zeigen, einander durch den krampfartigen Anspruch, der mit dem Zeigen einhergeht, vergraulen.

Stephan Roppel: Ich habe beim Lesen gedacht, Nele wagt den
Aufbruch mit Elm nicht, weil sie Angst hat: Angst vor dem Neuen, Angst vor dem Aufbruch, Angst vielleicht auch davor, dass die Utopie in sich zusammenbricht, wenn man sie auslebt. Immerhin lacht sie an der Stelle gemeinsam mit Elm, als sie sagt «Glaub mir nichts. Ich bin ein schlechter Mensch.» Ist dieses Lachen eine Lüge? Oder ein erotischer Moment, den sie nicht aushält?

Gerhild Steinbuch: Sie lacht an der Stelle im Text, weil sie hilflos
ist, weil sie Elm gegenüber ehrlich war, und er hats nicht verstanden. Nele hat Angst vor dem Neuen. Und Nele hat auch keinen Grund, sich auf das Neue, das Risiko einzulassen. Sie hat eine Erinnerung an «Liebe», die sie konserviert und die sie nicht loslassen kann: Die Erinnerung an Milans übergriffige Liebe, den Missbrauch, den sie als Zuneigung versteht/verstehen muss.

Stephan Roppel: Woran scheitern die Versuche von Hans, seinem Sohn einen Brief zu schreiben?

Gerhild Steinbuch: Er sucht nicht nach der Wahrheit, danach,
warum Elm wirklich abgehaun ist von daheim, er sucht nach seiner, einer bequemen Wahrheit. Darum kann er sich nicht erinnern, wie das gewesen ist, als Elm abgehaun ist, kann ihm keine Briefe darüber schreiben. Und das weiss er eigentlich auch, will es aber nicht wahrhaben.

Das Gespräch wurde im September 2009 geführt und ist zum Spielzeitthema «Auszeit» im Winkel Nr. 12 erschienen. Anlass war die Schweizer Erstaufführung von Steinbuchs Stück «schlafengehn» in der Regie von Gian Manuel Rau.

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