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JENS NIELSEN

GESPRÄCH ZWISCHEN JENS NIELSEN UND STEPHAN ROPPEL

Stephan Roppel: Du hast Dein Stück in einer Familie mit zwei Kindern angesiedelt. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Setting?

Jens Nielsen: Mir fiel auf, dass in meinen bisherigen Texten
ausnahmslos Paare oder Einzelpersonen leben. Ich hatte noch nie über eine Familie geschrieben. Dabei kam mir mein Vater in den Sinn, der starb, als ich fünfzehn war. Der Tod kommt bei mir als Thema sowieso gerne vor, also entschloss ich mich, beim Schreiben mit der Frage zu experimentieren, was in einer Familie geschehen könnte, wenn der Tod anklopft, eintritt und bleibt. «Bleiben» meine ich durchaus in einem lebensbejahenden Sinn. Und literarisch ist der Tod das Belebendste, was ich kenne, vielleicht weil er das Widersprüchlichste ist. Ich möchte
nicht auf ihn verzichten. Allein schon so etwas zu sagen, ist doch unerhört.

Stephan Roppel: Die Familienmitglieder heissen Irina, Paul, Klara und Steffi? Gewöhnliche und durchschnittliche Namen, die für eine gewöhnliche und durchschnittliche Familie stehen?

Jens Nielsen: In meinem letzten Stück war eine Frau nach einem kultischen Hügel aus der Frühgeschichte Irlands benannt, der auch der Wohnsitz der legendären Hochkönige des Mittelalters gewesen sein soll. Eine andere Frau hatte als Vorname den Nachnamen eines österreichischen Dichters der Moderne. Ein Mann hiess wie ein Kampfflugzeug. Das war insgesamt einfach zu seltsam. Man sollte Namen nicht mit Bedeutung überfrachten. Daher wählte ich dieses Mal
gewöhnliche Namen. In der Reihenfolge wie du sie erwähnst, wären das also die Friedliche, der Kleine, die Leuchtende und der Gekrönte. Gerade die Mutter hat ja ein Bedürfnis nach Gewöhnlichkeit. Nach der Geburt von Steffi, als die Familie komplett ist, sagt sie: «Schön. Wir haben was man so hat. Wir sind was man so ist. Wir sind stabil.»

Stephan Roppel: Die Mutter sagt an einer Stelle «Wir sind alle ein Mensch.» Ist die Individualität in Deinem Stück aufgehoben? Was bedeutet für Deine Figuren Individualität?

Jens Nielsen: Wenn ihre Individualität aufgehoben ist, dann nur, weil ich es nicht verstehe, die Figuren sprachlich wirklich unterschiedlich zu gestalten. Also, wir meinen hier die persönliche Eigenart, nicht wahr? Was ich aber aufheben möchte, ist ihre Identität, ihr Gefühl der inneren Einheit. Nicht permanent, aber punktuell und
plötzlich. Ich zweifle die innere Einheit der Person an. Ich glaube nicht, dass es sie gibt. Oder nein, das stimmt ja nicht wirklich. Was ich aber sehr gerne mag, ist, mir diese Fragen zu stellen: Warum scheint es Identität zu geben? Warum klammern wir uns an sie? Ich habe mal erlebt, dass die Identität einen Menschen verlassen kann. Und dass sie zurückkommen kann, und erneut gehen, um ganz weg zu bleiben, oder nur noch besuchsweise vorbei schaut. Dadurch ist bei mir ein Grundgefühl entstanden, dass Identität etwas Geliehenes ist. Dass wir etwas sind, worauf eine Identität sich setzt, wie um eine Pause zu machen. Und solange sie bleibt, sind wir eben identisch. Vielleicht sind Identitäten auch den Wolken vergleichbar. Es gibt zwar einzelne Wolken, aber sie ziehen nicht geordnet über den Himmel. Sie stossen zusammen oder streifen sich. Eine Wolke reisst einer zweiten einen Teil aus, eine andere trennt sich in zwei Wolken auf, oder wächst aus dem Nichts zu doppelter Grösse heran. Meinen Figuren geht es auch so. Jedes mal wenn man neu hinschaut, sind sie verändert. Noch ein formaler Aspekt zu dem Zitat. Der korrekte Satz hiesse ja etwa so: «Wir sind alles nur Menschen.» Man kann sich fragen, warum lasse ich die Mutter den Satz nicht korrekt sagen? Der Inhalt des Satzes gefällt mir zwar, ich finde aber, er ist durch Verfloskelung abgewertet. Die Frage stellt sich, wie ich den Inhalt vielleicht wieder aufwerten kann? Zum Beispiel durch das Mittel einer kurzen sprachlichen Irritation: «Wir sind alle ein Mensch». Entscheidend ist dabei, wirkt das Mittel, oder wirkt es nicht? Wenn der Satz wirkt, darf er stehen bleiben, weil er dann meiner Meinung nach auch wahr ist.

Stephan Roppel: Würdest Du auch Deine Figuren als Wahrheitssucher bezeichnen?

Jens Nielsen: Ich bin nicht sicher. Persönlich finde ich das Nachdenken über Wahrheiten belebend. In diesem Stück hat es mir aber Spass gemacht, die Suche nach Wahrheit mit Hilfe der Figuren zu parodieren. Klara will die Wahrheit herbeiwuchten. Steffi geht mit dilettantischem Eifer auf die Jagd nach Wissen. Irina hat zwar eine instinktive Ahnung, was familiär in Wahrheit schief läuft, aber sie kann sich diese Wahrheit nicht zu nutze machen. Einzig der Vater scheint zu wissen, dass man Wahrheit nicht herbeizwingen kann, sie muss sich einstellen. Ich finde aber, im Ganzen ist den Figuren der Wunsch nach Wahrheit nur in geringer Dosis verabreicht. Zentral ist eher ihre Desorientierung. Und mit der wiederum finden sich alle verblüffend gut ab.

Stephan Roppel: Deine Figuren thematisieren oft den Zeitpunkt
bestimmter Ereignisse und sind sich diesbezüglich zuweilen auch uneinig. Welche Bedeutung hat die Zeit in Deinem Stück?

Jens Nielsen: Lange bevor ich geschrieben habe, war ich fasziniert von Dalís weichen Uhren. Ich finde sie repräsentieren die Zeit so, wie ich sie wahrnehme. Eben weich. Ich bin in diesem Stück noch zurückhaltend im Umgang mit der Zeit. In einem nächsten möchte ich, dass eine Figur die Zeit isst. Wie Spaghetti. «Möchten Sie ihre Zeit mit Pesto oder lieber mit Tofu Bolognese?». Was das für Konsequenzen hat, weiss ich noch nicht. Aber die Vorstellung gefällt mir. Eventuell muss das ganze Stück dann in dieser Figur drin stattfinden.

Stephan Roppel: Was meinst Du mit weicher Zeit? Sind es die Erinnerungen, die verschwimmen? Haben Deine Figuren eine Biographie? Haben Sie keine? Sind sie dem Moment ausgeliefert?

Jens Nielsen: Ausgeliefert sind sie, ja, ganz bestimmt. Und eine Biographie haben sie auch. Zum Beispiel weiss an Steffis Geburtstag niemand, wie alt dieser wird. Damit will ich aber nicht andeuten, er habe keine Biographie. Ich möchte mit diesem Trick nur herausfinden, was geschieht, wenn man jemandem das Allerselbstverständlichste wegnimmt, eben zum Beispiel das Wissen um sein Alter. Und da muss ich zugeben, dass ich erschrecke, weil ich merke, es geschieht gar nichts. Ich hätte mir erhofft, es öffneten sich bitterarme Abgründe. Aber es entsteht nur Komik. Warum ist das so? Oder täusche ich
mich? Da würde ich dann herzlich gerne die Ansichten der Zuschauer erfahren. Aber noch zur weichen Zeit. Weiche Zeit verstehe ich so:
Wir können der Zeit nicht entkommen. Die Zeit herrscht über uns. Aber sie herrscht nicht despotisch. Sie herrscht tolerant. Die Zeit ist offenbar bereit, sich unserem subjektiven Erleben zu unterwerfen. Wir können sie als dehnbar wahrnehmen. Eine kurze Zeit kann lange dauern, eine lange Zeit kurz. Diese Illusion, wenn es denn eine ist, empfinde ich als befreiend. Sie versöhnt mich mit dem Schicksal. Das Durcheinanderbringen der Zeit ist eigentlich nur das Abbild von Erinnerung, wie ich sie erlebe, eben sprunghaft. Ich erinnere mich an meinen Vater, als ich ihn zum letzten Mal sah, im nächsten Moment springe ich zwei Jahre zurück, als wir erstmals von seiner Diagnose erfuhren. Wieder im nächsten Moment denke ich an ein Photo, auf dem er mich als Kind auf den Schultern trägt, obwohl ich dieses Erlebnis an
sich nicht mehr erinnere. Erinnerung ist Verwischung. Und Verwischung
inspiriert mich.

Stephan Roppel: Du hast kein realistisches Stück geschrieben.
In welcher Theatertradition ordnest Du Dich ein? Gibt es so etwas wie literarische Bezugspunkte für Dein Schreiben?

Jens Nielsen: Wenn ich jetzt sage: «Doch, ich finde mein Stück schon realistisch.» könntest du einwenden, ich würde der Frage ausweichen. Das stimmt auch ein wenig, ich spüre das Eis unter meinen Füssen dünn werden, wenn ich mein Schreiben in einen Bezug setzen soll, weil ich nicht so viel gelesen habe. Warum also finde ich mein unrealistisches Stück realistisch? Die Realität ist ähnlich hierarchisch wie die Wahrheit. Es gibt eine Hierarchie der Wahrheit. Zuoberst ist die Wahrheit der Einheit. Dass alles eins ist und zusammengehört, ist die höchste Wahrheit. Keine esoterische Hülse ist das, sondern nachweisbare, eisenharte Tatsache. Die Teilchenphysik zeigt es: Der Berg, der Hund, der Mond, der Feind, alles ist aus demselben Stoff gemacht und desselben Ursprungs. Das Problem ist nur, wir sind zu klein für diese Wahrheit, sie ist überhaupt nicht zu ertragen. Man hält den Gedanken daran einfach nicht aus, vielleicht weil er uns erahnen lässt, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, sondern beschränkte Wesen auf dem Weg nach wer weiss. Also müssen andere, niedrigere Wahrheiten daher. Eine, mit der ich zum Beispiel recht gut durchs Leben komme, ist diese: Wahr ist, was wirkt. Ich schaue den Sonnenuntergang an und sage: «Aha, die Sonne geht unter.» Das ist wahr, weil es so wirkt. Obwohl es eigentlich überhaupt
nicht wahr ist, es ist von A bis Z gelogen. Wenn ich also eine Figur sagen lasse, «Schau, die Sonne geht unter», dann ist das ein realistischer Satz, weil er auf einer eben solchen niedrigen Ebene wahr ist. Diese Ebene ist aber nur wahr, weil wir alle damit einverstanden sind, uns in gleicher Weise täuschen zu lassen. Ich finde es nun spannend, nach einer neuen Täuschung zu suchen. Ich möchte damit die herkömmliche Täuschung in Erinnerung rufen. Also könnte ich meine Figur zum Beispiel sagen lassen, «Schau, die Sonnen gehen unter». Aber da ist ja nur eine Sonne, würde ein Realist einwenden. Zu meiner Verteidigung würde ich dann sagen, ich finde, es ist egal, wie
viele Sonnen untergehen, solange es nicht einmal wahr ist, dass sie es tun. Nun ja, wenn ich darüber noch weiter rede, falle ich mit Sicherheit vom Pferd. Also, das absurde Theater ist mein liebstes. «Die Unterrichtsstunde» von Ionesco, als Beispiel. Wenn ich das Stück lese, befällt mich eine solche Heiterkeit, dass ich aufstehen muss und herumgehen. Nur ist es so, ich finde das Stück überhaupt nicht absurd.
Absurd finde ich das Erdgeschoss im Manor.

Das Gespräch wurde im Januar 2007 geführt und ist zum Spielzeitthema «Ausnahmezustand» im Winkel Nr. 9 erschienen. Anlass war die Uraufführung von Nielsens Stück «Endidyll» am Theater Winkelwiese und der Start der «Honigknochen-Trilogie» (Regie: Antje Thoms)

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