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JENS NIELSENGESPRÄCH ZWISCHEN JENS NIELSEN UND STEPHAN ROPPEL Stephan Roppel: Du hast Dein Stück in einer Familie mit zwei Kindern angesiedelt. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Setting? Jens Nielsen: Mir fiel auf, dass in meinen bisherigen Texten Stephan Roppel: Die Familienmitglieder heissen Irina, Paul, Klara und Steffi? Gewöhnliche und durchschnittliche Namen, die für eine gewöhnliche und durchschnittliche Familie stehen? Jens Nielsen: In meinem letzten Stück war eine Frau nach einem kultischen Hügel aus der Frühgeschichte Irlands benannt, der auch der Wohnsitz der legendären Hochkönige des Mittelalters gewesen sein soll. Eine andere Frau hatte als Vorname den Nachnamen eines österreichischen Dichters der Moderne. Ein Mann hiess wie ein Kampfflugzeug. Das war insgesamt einfach zu seltsam. Man sollte Namen nicht mit Bedeutung überfrachten. Daher wählte ich dieses Mal Stephan Roppel: Die Mutter sagt an einer Stelle «Wir sind alle ein Mensch.» Ist die Individualität in Deinem Stück aufgehoben? Was bedeutet für Deine Figuren Individualität? Jens Nielsen: Wenn ihre Individualität aufgehoben ist, dann nur, weil ich es nicht verstehe, die Figuren sprachlich wirklich unterschiedlich zu gestalten. Also, wir meinen hier die persönliche Eigenart, nicht wahr? Was ich aber aufheben möchte, ist ihre Identität, ihr Gefühl der inneren Einheit. Nicht permanent, aber punktuell und Stephan Roppel: Würdest Du auch Deine Figuren als Wahrheitssucher bezeichnen? Jens Nielsen: Ich bin nicht sicher. Persönlich finde ich das Nachdenken über Wahrheiten belebend. In diesem Stück hat es mir aber Spass gemacht, die Suche nach Wahrheit mit Hilfe der Figuren zu parodieren. Klara will die Wahrheit herbeiwuchten. Steffi geht mit dilettantischem Eifer auf die Jagd nach Wissen. Irina hat zwar eine instinktive Ahnung, was familiär in Wahrheit schief läuft, aber sie kann sich diese Wahrheit nicht zu nutze machen. Einzig der Vater scheint zu wissen, dass man Wahrheit nicht herbeizwingen kann, sie muss sich einstellen. Ich finde aber, im Ganzen ist den Figuren der Wunsch nach Wahrheit nur in geringer Dosis verabreicht. Zentral ist eher ihre Desorientierung. Und mit der wiederum finden sich alle verblüffend gut ab. Stephan Roppel: Deine Figuren thematisieren oft den Zeitpunkt Jens Nielsen: Lange bevor ich geschrieben habe, war ich fasziniert von Dalís weichen Uhren. Ich finde sie repräsentieren die Zeit so, wie ich sie wahrnehme. Eben weich. Ich bin in diesem Stück noch zurückhaltend im Umgang mit der Zeit. In einem nächsten möchte ich, dass eine Figur die Zeit isst. Wie Spaghetti. «Möchten Sie ihre Zeit mit Pesto oder lieber mit Tofu Bolognese?». Was das für Konsequenzen hat, weiss ich noch nicht. Aber die Vorstellung gefällt mir. Eventuell muss das ganze Stück dann in dieser Figur drin stattfinden. Stephan Roppel: Was meinst Du mit weicher Zeit? Sind es die Erinnerungen, die verschwimmen? Haben Deine Figuren eine Biographie? Haben Sie keine? Sind sie dem Moment ausgeliefert? Jens Nielsen: Ausgeliefert sind sie, ja, ganz bestimmt. Und eine Biographie haben sie auch. Zum Beispiel weiss an Steffis Geburtstag niemand, wie alt dieser wird. Damit will ich aber nicht andeuten, er habe keine Biographie. Ich möchte mit diesem Trick nur herausfinden, was geschieht, wenn man jemandem das Allerselbstverständlichste wegnimmt, eben zum Beispiel das Wissen um sein Alter. Und da muss ich zugeben, dass ich erschrecke, weil ich merke, es geschieht gar nichts. Ich hätte mir erhofft, es öffneten sich bitterarme Abgründe. Aber es entsteht nur Komik. Warum ist das so? Oder täusche ich Stephan Roppel: Du hast kein realistisches Stück geschrieben. Jens Nielsen: Wenn ich jetzt sage: «Doch, ich finde mein Stück schon realistisch.» könntest du einwenden, ich würde der Frage ausweichen. Das stimmt auch ein wenig, ich spüre das Eis unter meinen Füssen dünn werden, wenn ich mein Schreiben in einen Bezug setzen soll, weil ich nicht so viel gelesen habe. Warum also finde ich mein unrealistisches Stück realistisch? Die Realität ist ähnlich hierarchisch wie die Wahrheit. Es gibt eine Hierarchie der Wahrheit. Zuoberst ist die Wahrheit der Einheit. Dass alles eins ist und zusammengehört, ist die höchste Wahrheit. Keine esoterische Hülse ist das, sondern nachweisbare, eisenharte Tatsache. Die Teilchenphysik zeigt es: Der Berg, der Hund, der Mond, der Feind, alles ist aus demselben Stoff gemacht und desselben Ursprungs. Das Problem ist nur, wir sind zu klein für diese Wahrheit, sie ist überhaupt nicht zu ertragen. Man hält den Gedanken daran einfach nicht aus, vielleicht weil er uns erahnen lässt, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, sondern beschränkte Wesen auf dem Weg nach wer weiss. Also müssen andere, niedrigere Wahrheiten daher. Eine, mit der ich zum Beispiel recht gut durchs Leben komme, ist diese: Wahr ist, was wirkt. Ich schaue den Sonnenuntergang an und sage: «Aha, die Sonne geht unter.» Das ist wahr, weil es so wirkt. Obwohl es eigentlich überhaupt Das Gespräch wurde im Januar 2007 geführt und ist zum Spielzeitthema «Ausnahmezustand» im Winkel Nr. 9 erschienen. Anlass war die Uraufführung von Nielsens Stück «Endidyll» am Theater Winkelwiese und der Start der «Honigknochen-Trilogie» (Regie: Antje Thoms) |
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