LISA STADLER
GESPRÄCH ZWISCHEN LISA STADLER UND STEPHAN ROPPEL Stephan Roppel: Du hast Dich in Deinem Stück mit dem Thema der Sterbehilfe auseinandergesetzt. Was hat Dich an diesem Thema interessiert? Lisa Stadler: In erster Linie die Situation der Angehörigen, die bei einem solchen Todesfall ja oft mit dabei sind. Die Thematik der Sterbehilfe ist der Rahmen des Stücks, nicht aber der Inhalt. Deshalb habe ich bewusst darauf verzichtet, ethische, medizinische, religiöse oder politische Aspekte der Sterbehilfe zu thematisieren. Im Zentrum stehen die vier Figuren, ihre Beziehungen und Geschichten: Die Geschichte einer Freundschaft, die Geschichte einer Ehe, die Geschichte eines Geschwisterpaars und die Geschichte einer alten Liebe. Der angekündigte Suizid ist der Hintergrund vor dem sich diese Geschichten abspielen. Er verleiht ihnen die situativen Konturen. Stephan Roppel: Vera, Sara und Lorenz begleiten Thomas in den Tod und werden damit mit der Vergänglichkeit und dem körperlichen Zerfall konfrontiert. Inwiefern ist der körperliche Zerfall ein Handlungsmotor für die drei Sterbebegleiter im Stück? Lisa Stadler: Der körperliche Zerfall – das heisst das natürliche Altern – wird zum Thema, weil Thomas wegen seiner Krankheit diese Möglichkeit nicht gegeben ist: Entweder wird er mit knapp vierzig ein Fall für die Intensivmedizin oder er wählt den vorzeitigen Suizid. Der natürliche Alterungs- und Sterbeprozess bleibt eine Leerstelle, die jede Figur auf ihre Weise zu füllen versucht. Vera möchte Thomas zurückhalten und versucht ihn zu einem konventionellen Tod zu überreden. Sara wählt den Zugang über die Sexualität, die sie in dieser Todessituation als lebendige Kraft beschwört. Lorenz versucht dieser Leerstelle Sinn zu geben, indem er die Entscheidung seines Freundes in einen quasi-politischen Akt umdeutet. Stephan Roppel: Trifft Thomas eine rationale Entscheidung? Lisa Stadler: Vordergründig ja. Er ist bestens darüber informiert, welchen Tod er auf Grund seiner Krankheit erleiden würde. Deshalb entscheidet er sich sehr rational für den genormten und schmerzfreien Tod mit Hilfe der Freitodbegleiterin Frau Hegnauer. Die Art und Weise, wie er diesem Tod Individualität zu verleihen sucht, zeigt jedoch seine Ängste und Sehnsüchte und somit die irrationalen Seiten seiner Entscheidung auf. Er hofft auf einen geborgenen Tod im Kreise seiner Nächsten, legt aber jedes Detail genaustens fest. Er hat grosse Angst vor einem einsamen Tod, will aber bis zuletzt alles im Griff haben. Das verstärkt seine Einsamkeit – wahrscheinlich ist er die einsamste Figur im Stück. Stephan Roppel: Thomas’ scheinbar rationale Entscheidung löst heftige, auch körperliche Reaktionen aus. Ist «Frau Hegnauer kommt» die Geschichte einer Auflehnung des Körpers und der Sinnlichkeit gegen die Negation von Leben, wie sie in Thomas’ Entscheidung zum Ausdruck kommt? Lisa Stadler: In gewissem Sinne ja, aber diese Auflehnung scheitert. Thomas’ Sterbewunsch ist so dominant, dass die anderen Figuren ihre lebendigen Impulse zensurieren. So verheimlicht Vera ihre Schwangerschaft, um Thomas nicht zu belasten. Saras angeblich starke Sexualität bleibt auf der verbalen Ebene und verpufft als reine Provokation. Einzig Lorenz, der den Sterbewunsch seines Freundes loyal mitträgt, versucht sein körperliches und sinnliches Beziehungsleben normal weiterzuführen. Doch seine Frau Vera entzieht sich ihm. Selbst Thomas flüchtet für eine Nacht aus dieser «töteligen» Atmosphäre. Eskalationspunkt ist der Verlust des ungeborenen Kindes. Das werdende Leben hat neben dem vergehenden Leben keinen Platz. Stephan Roppel: Die Figuren kennen sich aus einer früheren Lebensphase und treffen sich nun mehrere Jahre später in dieser brisanten Situation. Die einzelnen Biographien hätten auch anders verlaufen können. Sind verpasste Lebenschancen zentral in Deinem Stück? Lisa Stadler: Nein. Die Figuren haben sich mit ihren verpassten Lebenschancen abgefunden, oder geben es zumindest vor. Sie haben sie zu «schönen Erinnerungen» umgedeutet, sie wollen «gute Freunde» bleiben. Diese Erinnerungen und Freundschaften werden nun aber von Thomas enttäuscht. Dies ist insbesondere bei den beiden Frauen der Fall. Sara stellte sich Thomas in all den Jahren seiner Abwesenheit als eine Art Alter ego vor. In ihrer Phantasie war er brüderlicher Freund und innerer Gesprächspartner. Der real existierende Thomas entspricht aber überhaupt nicht diesem Bild. Vera hingegen versucht, Thomas nochmals für sich zu gewinnen. Sie verlangt von ihm, anders als geplant zu sterben. Doch ihre gemeinsame Vergangenheit ist zu schwach, um das gegenwärtige Geschehen zu beeinflussen. Stephan Roppel: Einerseits versuchen die Figuren das Unfassbare dieses angekündigten Todes zu rationalisieren. Andererseits wird die erlebte Vergangenheit gegenwärtig. Was wird durch die Vorstellung und durch das Ausdenken von Leben bei den Figuren freigesetzt? Lisa Stadler: Die Figuren einigen sich zu Beginn stillschweigend darauf, Thomas’ Sterben mit höflicher Sachlichkeit zu begleiten. Das gelebte Leben wird ausgeschlossen, was paradoxerweise die ganze Sterbeexpedition gefährdet. In dieser Situation gibt es nur einen Ausweg: Das Leben wenigstens in der Phantasie zuzulassen. Alle Figuren bedienen sich dieses Mittels. Nur in der Phantasie finden sie zu sich selbst oder zueinander. Und nur mit Hilfe der Vorstellung eines sehr lebendigen Lebens schaffen es Thomas und Lorenz schliesslich, bis zur Ankunft von Frau Hegnauer auszuharren. Das Gespräch wurde im September 2007 geführt und erschien zum Spielzeitthema «Perfect Moment» im Winkel Nr. 8. Anlass war die Uraufführung von Lisa Stadlers Stück «Frau Hegnauer kommt», das im Dramenprozessor entstanden ist.
|