zurück

MARIUS VON MAYENBURG

GESPRÄCH ZWISCHEN MARIUS VON MAYENBURG UND STEPHAN ROPPEL

Stephan Roppel: Stehen die Figuren, auf die M trifft, für eine Welt, der die Zivili-sation abhanden gekommen ist?

Marius von Mayenburg: Ich wollte sicherlich nicht ein Stück mit warnender Botschaft schreiben, in dem Sinne: «Schaut her, so unzivilisiert wird unsere Welt aussehen, wenn wir so weiter machen». Mir ging es weniger darum, unserer äusseren Welt den Spiegel vorzu
halten, sondern eher darum, einen Weg zu finden, darzustellen, wie sich die äussere Welt in unserer Innenwelt spiegelt. Strindberg hat das mit einigen seiner Stücke probiert, am meisten mit dem «Traumspiel». Aber sonst finden solche Gegenwelten aus dem Unbewussten eher selten auf die Bühne. In solchen Traum- oder Albtraumwelten geht es tatsächlich oft nicht sonderlich zivilisiert zu, das stimmt. Dort findet all das statt, was sonst – zum Glück – von der Zivilisation gebändigt
wird.

Stephan Roppel: Das Verhältnis zwischen M und den Frauenfiguren, die als Variationen derselben Figur, nämlich der jungen Schwester interpretierbar sind, ist die Hauptachse des Stückes. Ist «Der
Hund, die Nacht und das Messer» ein Stück über die Liebe? Genauer: Über die Unmöglichkeit sich in der Liebesbeziehung zu vertrauen und einander verstehen zu können?

Marius von Mayenburg: Ich glaube, es ist am ehesten ein Stück über Angst. Über Angst vor anderen Menschen und Angst vor sich selbst. Liebe wäre ein Mittel gegen diese Angst. Ich hab mal gelesen,
dass bei Raubkatzen der Trieb zu töten so stark ist, dass in der sehr kurzen Paarungszeit der Aggressionspegel mit einem irrsinnigen Aufwand an Hormonen gesenkt werden muss, damit die Tiere überhaupt einen Artgenossen an sich heranlassen und sich fortpflanzen können. Unter normalen Bedingungen würden sie sich totbeissen. Aber die stehen dann wie unter Drogen und funktionieren in dieser kurzen Zeit auch nicht mehr als Raubtiere. Wir sind zwar keine Raubkatzen, aber der Mechanismus ist bei Menschen schon ein vergleichbarer. Die
Liebe bringt uns dazu, andere Menschen näher an uns heranzulassen, als unser Egoismus und das Bedürfnis, unabhängig zu sein, eigentlich zulassen würde.

Stephan Roppel: Die Welt in deinem Stück wird von der Wüste zurückerobert und das Menschsein wird durch unzivilisatorische Kräfte bedroht. Welche Regeln gelten in dieser Welt?

Marius von Mayenburg: Die Menschen in der Welt, in der M sich wiederfindet, haben alle Hunger. Und aus irgendeinem Grund halten sie ihn für eine geeignete Mahlzeit. Der Hunger hebelt alle anderen Regeln
aus. Ich habe versucht, die Unkalkulierbarkeit von Albträumen auf die Dramaturgie des Stückes zu übertragen. M kann sich auf nichts verlassen: Menschen, die ihm Hilfe anbieten, werden zu Angreifern, ändern ihre Identität, ihr Geschlecht, Orte ändern ihre Bedeutung, das Krankenhaus wird zu einem Mörderhaus, die Polizeiwache, wo M Schutz sucht, wird zur Todeszelle. Und auch auf sich selbst kann M sich nicht verlassen: ohne es zu wollen, wird er mehrfach zum Mörder und dadurch sich selbst immer fremder. Insofern ist die einzige Regel vielleicht die Unzuverlässigkeit dessen, worauf man sich normalerweise verlassen möchte.

Stephan Roppel: M trifft in seinem erschreckenden Erkenntnisprozess auf Figuren, die sich in der Gefahrenzone besser auskennen. Ist der Verlust abgesicherter Lebenswelten eine Erfahrung,
die unserer Zivilisation deiner Ansicht nach noch bevorsteht?

Marius von Mayenburg: Das weiss ich wirklich nicht. «Unsere Zivilisation» ist ja auch so ein Kampfbegriff inzwischen, den ich sehr missverständlich und deshalb gefährlich finde. Auf jeden Fall habe ich beim Schreiben nicht über den Untergang des Abendlandes nachgedacht. Das Stück kommt bei mir mehr aus einer Faszination für das Doppelleben, das wir Menschen alle führen. Ich bin fasziniert davon, dass die Leute, denen ich jeden Tag begegne, mit denen ich arbeite zum Beispiel, dass die alle so einen inneren Kosmos mit sich herumtragen, der für sie ein extrem hohes Mass an Wirklichkeit hat, ohne dass davon etwas unmittelbar nach aussen dringt. Ich kann zum
Beispiel ein Gespräch über das Kantinenessen führen und gleichzeitig wird unbewusst ein Kampf ausgetragen oder ein emotionales Bündnis geschlossen, und beides hat nichts mit Kohlrouladen zu tun. Das Fressen und Gefressenwerden kann man als Prinzip bestimmt auf allen möglichen Ebenen lesen. Ich will das als Autor gar nicht festlegen,
ich kann nur darüber reden, was mich beim Schreiben beschäftigt hat. Ob man dann in einer Aufführung M lieber als zwischenmenschlich aufgeriebenes Nervenbündel sieht oder als Europäer, der seine Grenzen und Märkte gegen die armen Ländern der Welt verteidigt, überlasse ich der Regie und letztlich dem Publikum.

Stephan Roppel: Welche gesellschaftlichen Kräfte befinden sich in deinem Stück in einem Kriegszustand. Ist M bloss ein Opfer, der entdecken muss, wozu er fähig ist und seine Unschuld verliert oder ist er eher eine verkappter Täter gewesen, der in der Gefahrenzone, in die er hineingerät, erst die wirklichen Dimensionen seines Lebens erkennt?

Marius von Mayenburg: Ich weiss nicht, ob sich das entscheiden lässt. Ich glaube nicht, dass man über jemanden sagen kann: «Eigentlich ist er so und so.» Wir existieren und agieren ja immer nur in
einem bestimmten Kontext, der dann auch bestimmt, wer wir sind. Das sieht man in jedem Krieg, wo sogenannte normale Bürger Dinge tun, von denen sich niemand hätte träumen lassen, dass sie dazu fähig sind. Dieses Potential ist da und spielt sicher nicht nur in Ausnahmesituationen wie Kriegen eine Rolle. Deshalb ist der Verlust der Unschuld für mich so ein wichtiges Thema, nicht nur in diesem Stück.

Stephan Roppel: Das Sterben in Deinem Stück geschieht lakonisch und ohne Aufregung. Wieso ist das so? Ist der Tod eine Befreiung?

Marius von Mayenburg: Das ist auch dem Versuch geschuldet, der Realität von Träumen nahezukommen. Ich wollte mir auf der Bühne lieber die Traurigkeit und lautlose Unheimlichkeit, die ich aus
Albträumen kenne, vorstellen, als ächzende Schauspieler, die versuchen, mir weiszumachen, dass sie jetzt nicht mehr leben. Tod ist auf der Bühne eh nicht realistisch darstellbar, sondern eine Verabredung.

Stephan Roppel: Glaubst Du noch an die Reglementierbarkeit des gesellschaftlichen Lebens?

Marius von Mayenburg: Natürlich, passiert ja auch ständig, ist gar nicht zu verhindern und muss auch nicht verhindert werden, solange das ganze im Fluss ist, sich dynamisch verändert, der Wirklichkeit anpasst und einen gesellschaftlichen Diskurs widerspiegelt.

Stephan Roppel: Ist die Mann-Frau-Beziehung in Deinem Stück, genauer die Beziehung von M zur jungen Schwester die letzte Utopie,
der letzte Rettungsanker in der sich verdüsternden Welt, wo der Mensch des Menschen Wolf ist?

Marius von Mayenburg: Ich weiss nicht, ob das die letzte Utopie ist, aber es ist zumindest eine Utopie, die aus dem letzten Jahrhundert,
wo einige Utopien krachen gegangen sind, übrig geblieben ist. Aber ich kann mir vorstellen, dass auch wieder neue Utopien entstehen, und dass Themen wie Gerechtigkeit und Solidarität mit wachsender Brisanz auch wieder zu neuen Strategien führen. Das Schöne an der Utopie der Liebe finde ich, dass sie gleichzeitig unvermeidlich und irrsinnig gefährdet ist.

Das Gespräch wurde im Januar 2009 geführt und ist zum Spielzeitthema «Homeless Kids» im Winkel Nr. 13 erschienen. Anlass war die Schweizer Erstaufführung von Mayenburgs Stück «Der Hund, die Nacht und das Messer» im Januar 2009.

zurück