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NIKOLAI KHALEZIN / BELARUS FREE THEATRE

GESPRÄCH ZWISCHEN NIKOLAI KHALEZIN UND STEPHAN ROPPEL

Stephan Roppel: Eine eurer ersten Produktionen war «4.48 Psychose» von Sarah Kane. Wie waren die Umstände dieser Produktion? Was bewog euch dazu, das Stück in Weissrussland zu produzieren und wie hat das Publikum darauf reagiert?

Nikolai Khalezin: Vladimir Shcherban (der Mitbegründer der Gruppe, Anmerkung: Stephan Roppel) startete seine Produktion von «4.48 Psychose» zur Zeit, als wir den internationalen Autorenwettbewerb «Free Theatre» gründeten. Die Inszenierung wurde in einem der Räume des National Drama Theatre entwickelt und kurz vor der Premiere von der Theaterleitung abgesagt. Die Theaterleitung sprach dieser Art der Gegenwartsdramatik die Berechtigung ab. Als
die Inszenierung beinahe fertig war, unternahmen wir alle Anstrengungen, um diese in kleinen Clubs und Bars zeigen zu können.
Die Wahl des Stückes war kein Zufall – wir waren von der englischen Gegenwartsdramatik sehr angetan und es wäre seltsam gewesen, wenn wir einer der berühmtesten und erfolgreichsten Vertreterinnen der neuen britischen Dramatikergeneration keine Beachtung geschenkt hätten. Und wir lagen richtig mit unserer Entscheidung: Das Publikum
hat die Produktion sehr warmherzig aufgenommen. Alle Aufführungen waren ausverkauft. Das war auch der erste Erfolg unseres Theaters – zwei britische Zeitungen berichteten über die Inszenierung: Das TIME Magazine und der Guardian. Lezterer veröffentlichte einen langen Artikel von Tom Stoppard, der die Inszenierung im August 2005
auf unsere Einladung hin in Minsk gesehen hatte.

Stephan Roppel: Was sind eure Kommunikationswege mit dem Publikum?

Nikolai Khalezin: Mithilfe verschiedener Informationskanäle wie Textnachrichten, E-Mail-Kommunikation und Blogging halten wir ständig Kontakt zu unserem Publikum. Fünfzig bis hundert Zuschauer für eine Veranstaltung zu versammeln, ist eine Sache von wenigen Stunden. Zusätzlich haben wir eine Warteliste. Darauf stehen mehrere
hundert Leute, die unsere Aufführungen sehen wollen. Zum Beispiel gelang es uns, während der drei Vorstellungen am letzten Wochenende jeweils 150 Zuschauer innerhalb von vier Stunden mithilfe des Blogging-Systems live-journal.com zu versammeln.

Stephan Roppel: Während der Recherche für das Stück «Zone of Silence» habt ihr mit Menschen aus Minsk gesprochen, die sich am Rand der gesellschaftlichen Normalität bewegen, zudem arbeitet ihr mit biografi schem Material der Schauspieler. Welchen Stellenwert hat der Autor bei eurer Arbeit? Was ist der Unterschied zu einem dokumentarischen Theater im Sinne von Rimini Protokoll?

Nikolai Khalezin: Als erstes möchte ich bemerken, dass wir die Arbeit von Rimini Protokoll sehr schätzen. Zudem haben wir sehr gute Beziehungen zu diesen liebenswürdigen Menschen und aussergewöhnlichen Künstlern. Doch technische und methodische Zusammenhänge unserer Arbeit unterscheiden sich. Anders als Rimini Protokoll versuchen wir Situationen zu schaffen, in denen sich ein umgekehrter Prozess abspielt: ein Schauspieler wird durch die Auseinandersetzung mit dem dokumentarischen Material zu einer «realen Person». Während Rimini Protokoll versucht, eine reale Person in einen Schauspieler umzuwandeln. Meiner Meinung nach sind das zwei Seiten einer Medaille: Eigentlich machen wir die gleiche Sache. Theater als Analyse. Die Gemeinsamkeit mit Rimini Protokoll besteht
darin, dass in beiden Fällen eine Person, welche die Bühne betritt, zugleich als Co-Autor der Produktion agiert. Das geht über die übliche Funktion des Schauspielers hinaus. Das ist auch Autorenschaft und Regie.

Stephan Roppel: Seit dem Beginn eurer Arbeit vor vier Jahren ist euer internationaler Erfolg beachtenswert, ihr wurdet zu den unterschiedlichsten internationalen Festivals eingeladen. Kannst du uns etwas zu der Rezeption eurer Arbeit in den westlichen Ländern erzählen?

Nikolai Khalezin: Eigentlich ist unsere Psyche in einem permanenten Zustand der Zerrissenheit. Teilweise kann das verglichen werden mit dem Charakter bei «4.48 Psychose». Einerseits ist da ein weltweiter Erfolg: Fünf-Sterne-Kritiken in den führenden britischen Zeitungen, angesehene Preise in Grossbritannien, Frankreich und Griechenland, Auftritte in den Nationaltheatern in Schweden und Norwegen, brillante Rezeption während unserer einmonatigen Tour durch Australien… Auf der anderen Seite gibt es in unserer Heimat Weissrussland diesen permanenten Druck: Entlassungen aller Schauspieler an den nationalen Theatern, wo sie vorher Arbeit hatten; Ausschliessung von den Universitäten; Verhaftungen; die Verweigerung, die Gruppe anzuerkennen; Inhaftierung der ganzen Gruppe mitsamt den Zuschauern. Offensichtlich gibt es keine Wertschätzung der Regierung für den internationalen Erfolg der einzigen Theatergruppe Weissrusslands, die nichts mit den staatlichen Strukturen zu tun hat. Jedoch hat die Regierung ihre Strategie vor
kurzem geändert. Nach zahlreichen Veröffentlichungen in der
internationalen Presse üben sie nun subtileren Druck aus und versuchen die offene Konfrontation mit dem Belarus Free Theater zu vermeiden.

Stephan Roppel: Mit euren politischen Themen versucht ihr eine öffentliche Diskussion über die sozialen und politischen Probleme in Weissrussland zu provozieren. Kannst Du die Bedingungen des täglichen Lebens in Weissrussland beschreiben? Was sind die drängendsten politischen und sozialen Probleme in der weissrussischen Gesellschaft?

Nikolai Khalezin: Aus der Perspektive der zivilisierten Welt sind die hiesigen Probleme monströs. Das Land hat kein transparentes Wahlsystem – während der letzten 15 Jahre waren sämtliche Wahlresultate und Referenden gefälscht; es gibt keine unabhängigen Massenmedien, weder elektronische noch Printmedien; es gibt keine
öffentliche Diskussion über die bedeutenden Themen und die Lebensbedingungen im Land; sozial tätige Vereine, Organisationen und Interessenverbände sind faktisch illegal, weil ihnen die offi zielle Registrierung verweigert wird… Diese Liste könnte fortgesetzt werden, aber es ist einfacher, sich die Geschichte anderer Diktaturen vor Augen zu führen, um ein Bild des heutigen Weissrussland zu erhalten.

Stephan Roppel: Neben dem 2008 verstorbenen englischen
Dramatiker und Nobelpreisträger Harold Pinter ist Vaclav Havel der wichtigste Unterstützer eurer Arbeit und eurer Aktivitäten. Wie ist die Beziehung zu Vaclav Havel?

Nikolai Khalezin: Wir pflegen zu ihm eine wunderbare Beziehung, die man auch als Freundschaft bezeichnen kann. Wir sind permanent in Kontakt und treffen uns regelmässig. Zweimal spielten wir in Prag in der President Havel Foundation, einmal in seiner Sommerresidenz in Hradacek – das Mekka des tschechischen kulturellen Widerstands. Aber der Kreis unserer Freunde geht über Vaclav Havel und Harold Pinter hinaus. Wir sind dankbar für die Freundschaft, die uns Tom Stoppard schenkte. Er ist unser Engel bei
der Zeitschrift Guardian und mittlerweile ein Mitglied unserer Familie; Ariane Mnouchkine, Mark Ravenhill, Mick Jagger … Diese Leute haben einen grossen Einfl uss auf uns und tragen zu unserer Verwirklichung als Theatermacher und Persönlichkeiten bei.

Das Gespräch wurde im September 2009 geführt und ist zum Spielzeitthema «Randzonen» im Winkel Nr. 14 abgedruckt. Anlass war eine Gastspielreihe des Belarus Free Theatre im Theater Winkelwiese im Dezember 2009.

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