Themen » Winkel-Gespräche » NIKOLAI KHALEZIN / BELARUS FREE THEATRE
NIKOLAI KHALEZIN / BELARUS FREE THEATREGESPRÄCH ZWISCHEN NIKOLAI KHALEZIN UND STEPHAN ROPPEL Stephan Roppel: Eine eurer ersten Produktionen war «4.48 Psychose» von Sarah Kane. Wie waren die Umstände dieser Produktion? Was bewog euch dazu, das Stück in Weissrussland zu produzieren und wie hat das Publikum darauf reagiert? Nikolai Khalezin: Vladimir Shcherban (der Mitbegründer der Gruppe, Anmerkung: Stephan Roppel) startete seine Produktion von «4.48 Psychose» zur Zeit, als wir den internationalen Autorenwettbewerb «Free Theatre» gründeten. Die Inszenierung wurde in einem der Räume des National Drama Theatre entwickelt und kurz vor der Premiere von der Theaterleitung abgesagt. Die Theaterleitung sprach dieser Art der Gegenwartsdramatik die Berechtigung ab. Als Stephan Roppel: Was sind eure Kommunikationswege mit dem Publikum? Nikolai Khalezin: Mithilfe verschiedener Informationskanäle wie Textnachrichten, E-Mail-Kommunikation und Blogging halten wir ständig Kontakt zu unserem Publikum. Fünfzig bis hundert Zuschauer für eine Veranstaltung zu versammeln, ist eine Sache von wenigen Stunden. Zusätzlich haben wir eine Warteliste. Darauf stehen mehrere Stephan Roppel: Während der Recherche für das Stück «Zone of Silence» habt ihr mit Menschen aus Minsk gesprochen, die sich am Rand der gesellschaftlichen Normalität bewegen, zudem arbeitet ihr mit biografi schem Material der Schauspieler. Welchen Stellenwert hat der Autor bei eurer Arbeit? Was ist der Unterschied zu einem dokumentarischen Theater im Sinne von Rimini Protokoll? Nikolai Khalezin: Als erstes möchte ich bemerken, dass wir die Arbeit von Rimini Protokoll sehr schätzen. Zudem haben wir sehr gute Beziehungen zu diesen liebenswürdigen Menschen und aussergewöhnlichen Künstlern. Doch technische und methodische Zusammenhänge unserer Arbeit unterscheiden sich. Anders als Rimini Protokoll versuchen wir Situationen zu schaffen, in denen sich ein umgekehrter Prozess abspielt: ein Schauspieler wird durch die Auseinandersetzung mit dem dokumentarischen Material zu einer «realen Person». Während Rimini Protokoll versucht, eine reale Person in einen Schauspieler umzuwandeln. Meiner Meinung nach sind das zwei Seiten einer Medaille: Eigentlich machen wir die gleiche Sache. Theater als Analyse. Die Gemeinsamkeit mit Rimini Protokoll besteht Stephan Roppel: Seit dem Beginn eurer Arbeit vor vier Jahren ist euer internationaler Erfolg beachtenswert, ihr wurdet zu den unterschiedlichsten internationalen Festivals eingeladen. Kannst du uns etwas zu der Rezeption eurer Arbeit in den westlichen Ländern erzählen? Nikolai Khalezin: Eigentlich ist unsere Psyche in einem permanenten Zustand der Zerrissenheit. Teilweise kann das verglichen werden mit dem Charakter bei «4.48 Psychose». Einerseits ist da ein weltweiter Erfolg: Fünf-Sterne-Kritiken in den führenden britischen Zeitungen, angesehene Preise in Grossbritannien, Frankreich und Griechenland, Auftritte in den Nationaltheatern in Schweden und Norwegen, brillante Rezeption während unserer einmonatigen Tour durch Australien… Auf der anderen Seite gibt es in unserer Heimat Weissrussland diesen permanenten Druck: Entlassungen aller Schauspieler an den nationalen Theatern, wo sie vorher Arbeit hatten; Ausschliessung von den Universitäten; Verhaftungen; die Verweigerung, die Gruppe anzuerkennen; Inhaftierung der ganzen Gruppe mitsamt den Zuschauern. Offensichtlich gibt es keine Wertschätzung der Regierung für den internationalen Erfolg der einzigen Theatergruppe Weissrusslands, die nichts mit den staatlichen Strukturen zu tun hat. Jedoch hat die Regierung ihre Strategie vor Stephan Roppel: Mit euren politischen Themen versucht ihr eine öffentliche Diskussion über die sozialen und politischen Probleme in Weissrussland zu provozieren. Kannst Du die Bedingungen des täglichen Lebens in Weissrussland beschreiben? Was sind die drängendsten politischen und sozialen Probleme in der weissrussischen Gesellschaft? Nikolai Khalezin: Aus der Perspektive der zivilisierten Welt sind die hiesigen Probleme monströs. Das Land hat kein transparentes Wahlsystem – während der letzten 15 Jahre waren sämtliche Wahlresultate und Referenden gefälscht; es gibt keine unabhängigen Massenmedien, weder elektronische noch Printmedien; es gibt keine Stephan Roppel: Neben dem 2008 verstorbenen englischen Nikolai Khalezin: Wir pflegen zu ihm eine wunderbare Beziehung, die man auch als Freundschaft bezeichnen kann. Wir sind permanent in Kontakt und treffen uns regelmässig. Zweimal spielten wir in Prag in der President Havel Foundation, einmal in seiner Sommerresidenz in Hradacek – das Mekka des tschechischen kulturellen Widerstands. Aber der Kreis unserer Freunde geht über Vaclav Havel und Harold Pinter hinaus. Wir sind dankbar für die Freundschaft, die uns Tom Stoppard schenkte. Er ist unser Engel bei Das Gespräch wurde im September 2009 geführt und ist zum Spielzeitthema «Randzonen» im Winkel Nr. 14 abgedruckt. Anlass war eine Gastspielreihe des Belarus Free Theatre im Theater Winkelwiese im Dezember 2009. |
||