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SILKE MERZHÄUSER

GESPRÄCH ZWISCHEN SILKE MERZHÄUSER UND STEPHAN ROPPEL

Stephan Roppel: Haruki Murakami hat mit seinem Bericht über den Terroranschlag auf die Tokioter U-Bahn 1995 einen breit recherchierten und sehr dokumentarischen, ethnographisch genauen Bericht geschrieben. Wie habt ihr dieses Material, das ja nicht primär fürs Theater entstand, für die Bühne übersetzt?

Silke Merzhäuser: Haruki Murakami hat in seinem Buch «Untergrundkrieg» Opfer, Angehörige von Opfern und Mitglieder der Aum-Sekte, die den Anschlag verübte, befragt. Dabei ist er nach einem systematischen Fragenkatalog vorgegangen, also sind alle Interviews ähnlich aufgebaut. Sie erzählen zunächst von dem alltäglichen Leben in Japan, besonders vom Arbeitsalltag, dann von dem Tag des Anschlages und schliesslich von den Folgen für jeden persönlich. Wir haben diese verschiedenen Ebenen bearbeitet und neu zusammengestellt. So gibt es zu Beginn eine hörspielartige Geräuschsequenz, die die Lärmkulisse der Tokioter U-Bahn mit Aussagen der Befragten über das U-Bahn-Fahren verbindet. Im Hauptteil des Abends haben wir zusammen mit den Schauspielern dann jedoch drei lange Interviews ausgewählt, die in ihrer Gesamtheit dargestellt werden. Während der Proben hatten wir uns viele Interviews gegenseitig vorgelesen und schnell gemerkt, dass diese ausführlichen persönlichen Schilderungen für sich stehend eine enorme Wirkung erzielen, die von Empathie über Unverständnis bis hin zu Schrecken geht. Die drei Schauspieler erzählen stellvertretend für die befragten Opfer deren Geschichte, sie stellen sie nicht dar, sondern stellen ihr professionelles Sprechen zur Verfügung, fungieren eher als Anwalt oder wohlwollender, plaudernder Archivar der Geschichten.
Neben diesen Texten haben wir eine kleine Ausstellung zusammengestellt, die sich die Zuschauer vor und nach der Vorstellung ansehen können. Sie setzt sich aus unseren Recherchen über die Aum-Sekte und die U-Bahn in Tokio, aus Informationen über japanische religiöse Riten, einer Hörinstallation mit weiteren Interviews und vor allem persönlichen Schaukästen von allen an der Produktion Beteiligten zusammen. So sollte ein Kaleidoskop aus Informationen und
Stellungnahmen entstehen, aus dem sich jeder Besucher selbst ein Bild über den Anschlag und seine Folgen zusammensetzen kann.

Stephan Roppel: Gibt es eine spezifische und kulturell bedingte japanische Art der Reaktion auf eine solche Katastrophe oder geben die Gespräche, die Murakami mit Tätern und Opfern des Anschlags geführt hat, eher Einblick in menschliche Reaktionsmuster, wie sie auch auf unsere Gesellschaft zutreffen?

Silke Merzhäuser: Man erfährt viel über die japanische Gesellschaft, wenn man das Buch liest, was einen immer wieder erstaunt. Vor allem gehört der emsige Arbeitsethos dazu. Die Haltung, besser mal eine Stunde vor Arbeitsbeginn im Büro zu sein, hat uns alle befremdet. Ob allerdings die Reaktion auf den Anschlag spezifisch kulturell war, können wir schwer einschätzen, denn dazu konnten wir in der kurzen Zeit die Kultur zu wenig kennenlernen. Sicher erstaunen manche Reaktionen und werden schnell unserem gängigen Japan-Bild zugeordnet, wie die unglaubliche Zurückhaltung, was die Schrecken, Rachegefühle etc. angeht. Immer wieder landet man bei Vergleichen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Diese bilden wohl ein Referenz-Bild für alle folgenden Auseinandersetzungen
mit Terroranschlägen. Doch im Gegensatz zu dem USamerikanischen
«Opfernarzissmus», der in Folge der Anschläge/Angriffe herrschte, scheint die japanische Verhaltenheit, ja fast Emotionslosigkeit im Sprechen über den Anschlag störend. Ich würde eher sagen, dass wir in der Zeit der Proben unsere Klischees der Kultur gut kennen gelernt haben.

Stephan Roppel: War die Unterscheidung in Täter und Opfer für Murakami und für euch im Umgang mit seinem Material wichtig?

Silke Merzhäuser: Murakami hat zunächst ausschliesslich Opfer des Anschlages befragt und daraus ein Buch gemacht. Da er dann aber als Experte für den Anschlag galt, wurde er von einer grossen japanischen Tageszeitung gefragt, ob er in ihrem Auftrag auch (vor allem ehemalige) Mitglieder der Sekte befragen würde. Seine Interviews sind dann in der Zeitung erschienen und später in einem separaten Buch. In der deutschen Ausgabe sind nun alle zusammen editiert und durch Vor- und Nachwörter Murakamis kommentiert. Wir haben die «Täter»-Interviews in unserer Arbeit absichtlich vernachlässigt, da wir eh schon so viele Stimmen ausschliessen und
entscheiden mussten, wem wir Raum geben. Bei den «Tätern», von denen keiner direkt am Anschlag beteiligt war, merkt man schnell, dass diese Menschen, ähnlich wie man es von anderen Sekten-Aussteigern kennt, einer Verführung aufgesessen sind, somit zu Opfern einiger weniger Sektenführer gehören und schwer für die geschehenen Anschläge zur Verantwortung zu ziehen sind. Es erschien uns weniger
interessant, sich mit diesen Menschen auseinander zu setzen, denn die Geschichten der Anschlagsopfer sind viel spezifischer, hier ist das Thema, wie Terrorismus unseren Alltag berührt, wichtig.

Stephan Roppel: Der Giftgasanschlag fand während der Berufsverkehrszeit statt und war somit auch ein Angriff auf den öffentlichen Raum. Hat der Arbeitsalltag und der öffentliche Raum in Japan eine andere Bedeutung als hier?

Silke Merzhäuser: Nein, eine andere Bedeutung hat er nicht, aber einen anderen Stellenwert. Der Japaner verbringt durchschnittlich wesentlich mehr Zeit an seinem Arbeitsplatz als der Westeuropäer, das Verhältnis von Freizeit und Arbeitszeit ist ein anderes, die Arbeit nimmt auf eine sehr selbstverständliche Weise mehr Lebenszeit in Anspruch.
Besonders ist vielmehr, dass die meisten Menschen mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, und das sind mehrere Millionen täglich. Das heisst, dass das U-Bahn-Netz unglaublich wichtig ist. In den Stosszeiten sind die Bahnen so voll, dass die meisten keinen Sitzplatz bekommen, sondern dicht gedrängt bis zu einer Stunde stehen müssen – und abends das gleiche zurück. Ein Angriff auf diese U-Bahn, zudem auf einen U-Bahn-Knotenpunkt, bedeutet, dass man viele Menschen treffen wollte und dass es egal war, wer getroffen wird, dass jeder gemeint sein könnte.

Stephan Roppel: Beeinflusste die mediale Omnipräsenz des Themas Terrorismus eure Arbeit und eure Wahrnehmung der hiesigen Gesellschaft?

Silke Merzhäuser: Einige Tage nach unserer Premiere in Luzern, geschahen die Anschläge auf die Züge in Madrid. Plötzlich stand die Inszenierung in einem anderen Bezug. Die Fernsehbilder aus Madrid glichen plötzlich denen des japanischen Fernsehens und der Schrecken und die Wut, die durch die Bilder vermittelt wurden, verstärkte auch die
emotionale Wirkung der Inszenierung. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um politisch oder religiös motivierten Terrorismus handelte. Opfer eines Anschlages zu werden schien auf einmal überall möglich zu sein. Murakami sagt in seinem Nachwort, dass man nicht sehr weit kommen werde, wenn das «Phänomen Aum», also die Sekte, die den Anschlag verübte, als etwas Unbegreifliches, fundamental anderes, ausserhalb unserer Gesellschaft Stehendes verdrängt wird, das man gerade noch mit einem Fernglas auf der anderen Seite eines Ozeans erkennen kann. Auch wenn der Gedanke unangenehm sei, werde man
nicht umhin kommen, «sie» in das eigene System zu integrieren. Der Gedanke, dass man selbst in einer Gesellschaft lebt, die durch ihre Hierarchien, ihre Art der Politik oder die Art, mit der sie Bedürfnisse ausklammert, solche Anschläge möglich macht, trifft wohl auf die Anschläge in den USA, in Japan, dem Moskauer Theater oder auch auf Madrid zu. Aus diesem Grund war es für uns so wichtig, die Texte von «Untergrundkrieg» auf die Bühne zu bringen.

Silke Merzhäuser hat als Dramaturgin am luzernertheater das Projekt «Untergrundkrieg» zusammen mit Olaf Kröck und Malte Preuss initiiert und geleitet.

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